Vorderreihe 59

Travemünder Häuser Nr. 75

Vorderreihe 59

Wer heute die Vorderreihe entlang bummelt, kann sich wohl gar nicht vorstellen, dass sich diese bis zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts nur von der Jahrmarktstraße bis zur Rose erstreckte. Der Abschnitt zwischen Rose und dem heutigen Lotsenberg war Teil einer Zitadelle, die erst in nachnapoleonischer Zeit ab 1817 abgetragen wurde.

Ab 1831 wurde das Gebiet zwischen Rose und Lotsenberg (seinerzeit: Neustraße) parzelliert und Interessenten zum Kauf angeboten. Einer der ersten Käufer war wohl – das ist nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen – Heinrich Behrens (Eigentümer der Seebadeanstalt von Travemünde und späterer Konzessionär der Spielbank), der das Grundstück in der Vorderreihe 59 erwarb und um 1832/33 mit einem mehrstöckigen Haus bebaute.

1873 wurde es von Johann Heinrich Harms, dem Ur-Urgroßvater der heutigen Erbengemeinschaft, gekauft. Johann Heinrich Harms handelte mit Wein. Er war der Sohn des Firmengründers Lorenz Harms.

Nach seinem Tode 1892 erbte dessen Witwe Charlotte, geb. Leithoff, das Haus, das sie aber schon 1894 an ihren Schwiegerenkel, den Kaufmann Richard Piehl und Großvater der jetzigen Eigentümer verkaufte.

Vorderreihe 59

Bei der Firma Piehl und Fehling handelte es sich um eine nicht unbedeutende Getreide- und Kaffeehandlung, diente sie doch Thomas Mann als Vorbild für die fiktive Firma Strunk und Hagenström in seinem Roman „Die Buddenbrooks“.

Richard Piehl nahm einige bauliche Veränderungen an dem Gebäude vor; die signifikanteste war die Schließung der Veranda durch die Jugendstilfassade. 1922 starb er, Inhaberin wurde seine Witwe Lilly Piehl, geb. Harms.

Bis zur Zeit des 2. Weltkriegs wurde das Gebäude nur als Sommerhaus genutzt. Erst zum Ende des 2. Weltkriegs und in der ersten Nachkriegszeit bewohnte eine Vielzahl von Flüchtlingen das Haus.

Ab 1944 wurden Gertrud Grauhan geb. Piehl, Mutter der jetzigen Eigentümergemeinschaft und Prof. Dr. med. Max Grauhan, der seinerzeit allerdings als Chefarzt in Senftenberg/Niederlausitz tätig war, Eigentümer.

Professor Grauhan starb im Juni 1945 an Fleckfieber, seine Witwe siedelte mit den jüngsten Familiensprößlingen 1946 nach Travemünde um, konnte ihr Haus zunächst nur quasi als Untermieter der Hauptmieter beziehen.

Auch die älteren Kinder fanden sich wieder in Travemünde ein. Sie waren bei Kriegsende bereits in Westdeutschland.

Vorderreihe 59

Das Haus war nicht für eine so große Personenzahl und für die Bewohnung im Winter eingerichtet. Größere Umbauten waren allerdings während des Krieges nicht möglich. Infolgedessen entstanden zahlreiche Störungen in der Wasserversorgung und im Abwasserbereich. Auch das Dach wurde undicht. Eine umfassende Lösung mußte her.

Das Vermögen der Familie Grauhan war in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beschlag-nahmt worden. Mit der Währungsreform stiegen die Reparaturkosten, während die Mieten aber dem vorgeschriebenen niedrigen Stand blieben.

Großen Mut bewies ein Mitarbeiter der Dresdner Bank in Senftenberg (SBZ), indem er, natürlich verbotenerweise, Frau Grauhan eine Eidesstattliche Versicherung über den Aktienbesitz der Familie in Westdeutschland zukommen ließ. Dessen Verkauf sowie die nach sieben Jahren endlich erfolgte Übernahme und Auszahlung der Witwenpension erlaubte 1952 eine gründliche Renovierung des Hauses.

Dabei wurde ein weiteres Stockwerk geschaffen und im Dachgeschoss eine kleinere Wohnung eingerichtet.

Der zusätzlich gebaute Wohnraum erlaubte eine gewerbliche Vermietung des Erdgeschosses. Die denkmalgeschützte Fassade blieb, auch im Interesse der Familie, weitestgehend erhalten, nur im Dachgeschoss wurden drei kleinere Fenster statt eines Guckloches genehmigt.

An den Umbauten waren beteiligt: Herr Lange als Architekt, Fa. Tolkmitt & Müter als Zimmerleute, Fa. Kosegarten als Maurer, Fa. Meyer-Ivendorf als Klempner und Installateure, Fa. Scheutzlich als Elektriker und die Fa. Soldwisch als Maler.

Vorderreihe 59

Nicht vergessen werden darf das Ehepaar Gustav und Gertrud Sausin aus Memel, das zu guten Freunden der Fa. Grauhan wurde. Die Eheleute bewohnten die Dachetage und fanden darin ein neues Zuhause. Bis sie in den 80er Jahren kurz nacheinander starben, hüteten sie das Haus treulich.

Im Januar 1957 starb Gertrud Grauhan. Seit der Zeit gehört das Haus einer Erbengemeinschaft. Zunächst alle fünf Geschwister Grauhan, die von Hans-Friedrich Grauhan, Ltd. Oberstaatsanwalt i. R. bis heute verwaltet wird.

Aktuell gehören zur Erbengemeinschaft noch Dr. med. Gerda Pauly, geb. Grauhan, Antje Grauhan, M.A., ehemalige Lehrerin für Krankenpflege, und Dr. rer. nat. Holger Grauhan, Sohn von Prof. Dr. jur. Rolf-Richard Grauhan, der 1979 starb.

Mit Holger Grauhan beginnt die Enkelgeneration, zu denen noch einige gehören, die das Haus lieben gelernt haben, erinnert es doch an glückliche Ferienzeiten, die auch ihre Eltern darin hatten. Das gleiche gilt für die Urenkel, von denen bisher aber nur wenige volljährig sind.

Das Gebäude steht auf einem Grundstück von ca. 800 qm, das sich mit einem herrlichen Garten bis zur Kurgartenstraße hinzieht. Die Wohn- und Gewerbefläche beträgt ca. 350 qm und wird ab 1. Stock für Eigenbedarf und Ferienwohnungen genutzt.

Das ist aber nicht alles. Das Gebäude Vorderreihe 59 kann auch mit einem echten Superlativ aufwarten: seit 1952(!) befindet sich die älteste Eisdiele Travemündes im Erdgeschoß, die zuerst von Rudi Mario Mazzorana und seit 1983 von der Familie Tonegutti betrieben wird.

Die Vorderreihe 59 ist also in jeder Hinsicht eine gute Adresse, sie ist aber in festen Händen.

Rolf Fechner

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