Thomas Mann – Buddenbooks 1904 – Einband Wilhelm Schulz

Thomas Mann, Tonio Kröger und Travemünde

von Dr. Tim Petersen

Auch eine kritische Erwiderung auf Nicole Quint aus Anlass des 150.Geburtstags des Dichters

In dem facettenreichen und wechselhaften Leben des hier gewürdigten Thomas Mann, geboren am 6. Juni 1875 in Lübeck, bildet Travemünde ein Kontinuum. Volker Hage spricht er daher von einer „Liebe fürs Leben“ für den Jubilar, der seinen 150. Geburtstag gehabt hätte. Dies scheint berechtigt, denn Immer wieder blickt Thomas Mann auf seine hier verbrachten Kindheitsstunden zurück. So schreibt er in einem 1930 veröffentlichten “ Lebensabriß“, also kurz nach der Verleihung des Literaturnobelpreises:

„Die lichtesten Zeiten meiner Jugend aber waren die alljährlichen Sommerferienwochen in Travemünde mit ihren Badevormittagen am Strand der Ostseebucht und ihren Nachmittagen zu Füßen des fast ebenso leidenschaftlich geliebten Kurmusiktempels gegenüber der Hotelanlage.“

Diese positiven Kindheitserfahrungen stellt er das Leid der Schule entgegen. Als er sechs Jahre später vom Schweizer Exil aus Kontakte in die USA knüpft und für die amerikanischen Leser erneut einen Lebenslauf verfasst, heiß es ganz ähnlich:

„Die glücklichsten Zeiten meiner Jugend, ja wohl meines Lebens überhaupt waren die vierwöchigen Sommerferien, die ich mit den Meinen fast jedes Jahr in dem benachbarten Seebadort Travemünde verbrachte. Ich liebte die gepflegte und unbildenlose Idyllik dieses Aufenthaltes um so inniger, als ich die Schule verabscheute und ihren Anforderungen bis ans Ende nicht genüge tat.“

vDer neunjährige Thomas Mann

Das Ende des Nationalsozialismus führte zu zwei Begegnungen mit seiner alten Heimat. Hiervon ist der zweite Besuch, bei dem er einige Monate vor seinem Tod die Lübecker Ehrenbürgerwürde erhält, der bekanntere. Für das Urteil Manns über Travemünde ist aber ein früheres Wiedersehen interessanter. Um seinen 78. Geburtstag herum reist Thomas Mann nach London. Da die Rückreise über Hamburg führt, erhält er eine informelle Einladung der Lübecker Nachrichten zu einem Aufenthalt in Lübeck und Travemünde. Die Notizen in seinem Tagebuch, von denen sein Verehrer Marcel Reich-Ranicki sagt, dass sie von Mann „so schnell und schludrig, so schlecht geschrieben“ seien wie nichts andres aus seiner Feder. Mann notiert in dieser Weise: „Am Mittwoch, den 10. Bei geklärtem Wetter Fahrt in zwei Wagen mit Tutti Fischer und Dr. Hirsch auf der Autobahn über Lübeck nach Travemünde. Journalisten. Gang auf der Strandpromenade, köstliche Seeluft. Bewegt. Mittagessen im Kurhaus als Gäste der Zeitung. Viele Aufnahmen. Interview und Verlag-Gespräch beim Kaffee mit Hirsch u. Tutti.“Norderreihe“ [hier liegt wahrscheinlich ein Editionsfehler vor und die Vorderreihe ist gemeint], Leuchttürme, Schweizerhäuser bewahrt. Musiktempel jetzt beim Spiel-Casino. Gefühl letzten Wiedersehens.“  In etwas leserfreundlicherem Stil äußert er sich in einer Korrespondenz mit dem ihm aus dem Exil bekannten österreichischen Publizisten Ernst Benedikt, wenn er Travemünde als das „Kindheitsparadies“ spricht, das zu erneut zu begegnen „recht anstrengend und bewegend“ war. Noch plauderhafter ist er beim Besuch gegenüber dem LN-Kulturjournalisten Hans Schrems. Neben lyrisch anmutenden Erinnerungen, wie sie auch in dem noch zu behandelnden „Lübeck als geistige Lebensform“ auftreten, nimmt Mann in ambivalenter Haltung – man erahnt sie aus dem Tagebuch – zum Travemünde der 1950er Jahre Stellung. Er wird wie folgt zitiert: „Heute sieht in Travemünde freilich manches anders aus. Früher war alles schlichter und idyllischer. Die schöne steinerne Promenade gab es noch nicht, das waren damals noch Bretter, und das Kurhaus war noch ein altes Biedermeier-Gebäude.“

Entgegen der im Tagebuch geäußerten Befürchtungen war der Juni 1953 nicht seine letzte Begegnung mit Travemünde. Als er zwei Jahre später die Lübecker Ehrenbürgerwürde erhält, sind aber die erhaltenen Äußerungen sehr sparsam. Vielleicht hängt das nicht nur mit seinem nahen Lebensende, sondern auch mit dem historischen Kontext der Reise zusammen. Die familienintern umstrittene Ehrenbürgerwürde bildet 1955 den Abschluss einer Deutschland-Reise, die zuvor eine  Schiller-Rede und einen hoch umstrittenen Weimar-Besuch (im nahen Buchenwald waren Gegner des Kommunismus inhaftiert) beinhaltete. Auf dieser Reise überzeugt er sich, „daß Deutschland seine Heimat nicht mehr wahr und nicht mehr werden konnte.“ (Reich-Ranicki). Im „Kurhof“ („an dem von einer Sturmflut zerstörten Strande. Komfortable Unterkunft“) untergebracht, schreibt er: „In Travemünde manchmal gegangen, zum „Seetempel“ und weiter durch das Wäldchen zur Spitze der Hochküste. Wetter sehr kalt u. windig.“

Seine realen Begegnungen und die autobiographischen Reminiszenzen an unser Ostseebad wirken sich dahin aus, dass sich diese auch in seinem literarischen Werk niederschlägt. Der Literaturkritiker Volker Weidemann tituliert den Schriftsteller als „Mann vom Meer“. Auf die Beziehung zwischen Travemünde und seinem literarischen Werk geht Thomas Mann selbst in seiner am 5.Juni 1926 im Lübecker Stadttheater gehaltene Rede „Lübeck als geistige Lebensform“ ein. Der Verfasser dieser Zeilen ist in dieser Zeitschrift auf den Inhalt und Kontext der Rede, die seiner Zeit vom Lübecker Quitzoiw Verlag zunächst als „Die Entstehung der Buddenbrooks“ vertrieben wird, eingegangen (vgl. UT 1/357, S. 17-21. Im Anlass habe ich mich freilich geirrt. Es war nicht der Geburtstag Lübecks, sondern der 700. Jahrestag der Reichsfreiheit Lübecks). Die für diesen Kontext entscheidenen Sätze seien aber hier noch einmal angeführt. Als er auf die Wirkung des Lanschaftlichen auf sein Werk zu sprechen kommt, sagt er direkt schwärmerisch, wenn auch aus heutiger Sicht in nicht allen Punkten politisch korrekt:

„Da ist das Meer, die Ostsee, deren der Knabe zuerst in Travemünde ansichtig wurde, dem Travemünde von vor vierzig Jahren mit dem biedermeierlichen alten Kurhaus, den Schweizerhäusern und dem Musiktempel, in dem der langhaarig-ziegeunerhafte kleine Kapellmeister Heß mit seiner Mannschaft konzertierte und auf dessen Stufen, im sommerlichen Duft des Buchsbaums, ich kauerte – Musik, die erste Orchestermusik, wie immer sie nun beschaffen sein mochte, unersättlich, in meine Seele ziehend. An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in meinem Leben, das ich doch heute nicht mehr arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war, – an diesem Ort gingen das Meer und die Musik in meinem Herzen eine ideelle, eine Gefühlsverbindung für immer ein, und es ist etwas geworden aus dieser Gefühls- und Ideenverbindung – nämlich Erzählung und epische Prosa …“

Thomas Mann 1906 © Philipp Kester

Als konkrete Beispiele dafür, wie dieses lyrisch geschilderte Umfeld auf sein literarisches Schaffen hatte, nennt er natürlich Lübeck-Roman „Buddenbrooks“. Er beschreibt dabei intensiv die Entstehungsgeschichte des Buches. Er nennt die ebenfalls in Lübeck sans lettre spielende Erzählung  „Tonio Kröger“. Interessanterweise will er in der Rede nicht näher darauf eingehen, was wir hier umso mehr tun wollen. Auch wenn sie nicht direkt in Lübeck spielen, so habe die Atmosphäre der Stadt auch Einfluss auf den Roman „Zauberberg“ mit der aus Hamburg stammenden Hauptfigur Hans Castorp und die Kurzgeschichte „Tod in Venedig“ gehabt.

Wenn es mir auch uninteressanter erscheint, es aber m. E. bekannter ist, sei hier auf die Rolle Travemündes in den 1901 erschienen Buddenbrooks eingegangen. In dem familiengeschichtlich gefärbten Roman, der Aufstieg und Niedergang des Lübecker Kaufmannsgeschlechts Buddenbrook beschreibt, bildet das von Mann in seinen autobiographischen Schriften geschilderte Idyll – zu den Schilderungen gibt es teilweise wortwörtliche Überschneidungen – in gewisser Weise eine Klammer. Relativ am Anfang ist Travemünde die Kulisse für die Romanze zwischen dem Medizinstudenten und Lotsensohn Morten Schwarzkopf und der Tochter von Konsul Buddenbrook, Antoinette, genannt Tony. Die beiden verleben im Ort unbeschwerte Stunden. Da aber eine Heirat nicht standesgemäß war, beugt sich Tony dem väterlichen Willen und heiratet Bendix Grünlich, der sich später als Hochstapler entpuppen sollte. Diese Abschnitte, die auch in einer der letzten UT-Ausgaben im Kontext wiedererrichteten Seetempels (vgl. UT 3/398 S. 6/7) teilweise wiedergegeben wurden, werden gerne rezitiert. So vor einigen Jahren von Peter Kyritz in der Bücherstube und demnächst wieder von Rainer Luxem am 19.6. bei „Kultur am Morgen“ in der St.-Lorenz-Kirche. Ähnlich idyllisch und autobiographisch wie diese bekannte Szene sind die Schilderungen der in Travemünde verlebten Sommerferien des Hanno Buddenbrook, Sohn von Senator Thomas Buddenbrook. Für Hanno sind wie für Thomas Mann Meer und Musik willkommene Abwechslungen zur ungeliebten Schule und den Ansprüchen des Vaters, ihm im Sinne der Familientradition im Kaufmannsberuf zu folgen. An diese schönen Szenen in Travemünde reiht sich dann aber der September-Aufenthalt des Thomas Buddenbrook zusammen mit seinem aus der Art geschlagenen Bruder und anderen Lübecker Honoratioren, deren die Klage über den Gesundheitszustand gemein ist. Etwas später stirbt dann Thomas auch an einer fehlerhaften Zahnbehandlung und kurz darauf folgt ihm sein musischer, aber fürs Leben unbegabter noch sehr junge Sohn durch eine Typhus-Erkrankung.

Die in Travemünder Kontexten wenig beachtete, 2 Jahre nach dem Roman publizierte Erzählung Tonio Kröger erscheint mir noch autobiographischer, aber dafür umstrittener als Buddenbrooks. Während die verschlüsselte Familienchronik unbestritten Weltgeltung hat, so scheiden sich an Tonio Kröger die Geister. Für einen der Söhne Thomas Manns, dem bekannten Historiker Golo, zählt sie zu den beiden schlechtesten Erzählungen seines Vaters. Der Golo zugeneigte Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki meint hingegen, dass es sich bei allen Schwächen um eine „Jahrhunderterzählung“ handelt. Er macht es daran fest, dass in Blick auf spätere Kernfiguren Mannscher Werke Tonio Kröger „die Keimzelle des Lebenswerkes von Thomas Mann“ sei.

Buddenbrookhaus Lübeck © TraveMedia

Die auf dem ersten Blick etwas inhaltsarme Erzählung handelt von Tonio, Sohn des Konsul Kröger und seiner Frau mit brasilianischen Wurzeln. Der literarisch-musisch begabte Schüler sucht die Nähe der ganz anders gearteten Hans Hansen und Ingeborg Holm, die beide seine Nähe nicht erwidern. Analog zur Biographie Manns zieht Tonio nach dem Tod seines Vaters nach München und wird hier zu einem bekannten Schriftsteller. Er zweifelt aber in Gesprächen mit der russischen Malerin Lisaweta Iwanowna in ihrem Schwabinger Atelier an der Sinnhaftigkeit seiner künstlerischen Existenz und entschließt sich letztlich zu einer Dänemark-Reise mit einem Zwischenstopp in seiner alten Heimat. In Dänemark glaubt er, Hans Hansen und Ingeborg Holm wieder zu begegnen.

Wie auch Lübeck bleibt Travemünde in dieser Erzählung namentlich ungenannt. In den Beschreibungen wird jedoch deutlich, dass es sich nur um die beiden Orte handeln kann. Wie in seinen autobiographischen Schriften und bei Hanno Buddenbrook ist Travemünde für den verträumten Jungen wieder das positive Gegenstück zu dem von ihm verhassten schulischen Alltag. Wie bei Mann ist bei Tonio Kröger Travemünde auch eine künstlerisch-literarische Inspiration. Über den fiktiven Dichter heißt es: „Der Springbrunnen, der alte Walnußbaum, seine Geige und in der Ferne das Meer, die Ostsee, deren sommerlichen Träume er in den der Ferien belauschen durfte, diese Dinge waren es, die er liebte, und zwischen denen sich sein inneres Leben abspielte, Dinge, deren Namen mit guter Wirkung in Versen zu verwenden sind und auch wirklich in den Versen zu verwenden sind, die Tonio Kröger zuweilen verfertigte, immer wieder erklangen.“

Im weiteren Verlauf der Erzählung taucht zwar Travemünde im Gegensatz zu Lübeck – hier besucht er das zu einer Bibliothek gewordene Familienheim – nicht mehr auf, aber Tonios Sehnsucht nach dem Meer wird im Rahmen seiner Dänemarkreise deutlich. Zwar erinnert ihn der Besuch Kopenhagen an Lübeck, aber sein eigentliches Ziel ist Alsgarde, der kleine an der nordseeländischen Küste gelegene Ort. Hier entwickelt er für das Meer ähnliche Gefühl wie in Travemünde. Mann schreibt: „Tonio Kröger stand in Wind und Brausen eingehüllt, versunken in dies schwere, betäubende Getöse, das er so sehr liebte. Wandte er sich und ging fort, so schien es plötzlich ganz ruhig und warm um ihn her. Aber im Rücken wußte er sich das Meer; es rief, lockte und grüßte. Und er lächelte.“

Thomas Mann in Weimar 1919 © Bundesarchiv Bild 183-S86717

Für Marcel Reich-Ranicki wurde diese Erzählung Thomas Manns „zur Bibel der Heimatlosen, die letztlich ein Asyl oder vielleicht doch eine Heimat und nicht die schlechteste gefunden haben: die Literatur.“

Zum Kreise der etwas außergewöhnlichen Menschen, die sich durch die Erzählung angesprochen fühlen, zählt sich auch die Berliner Reisejournalistin Nicole Quint. In einem Artikel für die NZZ vom 27.12.2024 erzählt sie in bewegenden Worten, wie sie die Erzählung zu einem Travemünde-Urlaub motiviert hat. Das Ergebnis fiel dann aber enttäuschend aus. In etwas elitärer Weise beschreibt sie den heutigen Travemünder Tourismus: „Da ruft der Imbissbudenbesitzer „Zweimal Pommes“ über die Promenade, Jugendliche schieben abends einige Strandkörbe kreisförmig zusammen und platzieren mittig ihre blubbernden Shisha-Pfeifen, und am Wochenenden feuern Techno-Fans vom gegenüberliegenden Priwall-Ufer musikalische Flammenwerfer ab. Das soll dann wohl die Demokratisierung des Strandbadglücks sein.“ Für das Jubiläumsjahr befürchtet sie eine Geiselnahme Thomas Manns durch die Lübecker und Travemünder Fremdenverkehrswirtschaft.

Aber ist sie in beidem im Recht? Gewiss haben sich der Ort und seine Besucher geändert. Aber die Idylle kann man beispielsweise an einem Abend bei einem Spaziergang über die Ostseepromenade immer noch erleben. Und gilt nicht in Bezug auf die positiven Seiten des Wandels, was der FAZ-Journalist und leidenschaftliche Buddenbrook-Leser Rainer Hank schrieb?  „Die See hat es mir als Südmensch zeitlebens nie besonders angetan: Aber Travemünde hat mich dann doch beeindruckt. Wenn die großen Fähren die Mündung der Trave verlassen, dann riecht es nach der fernen Welt.“

Seetempel Travemünde um 1860

Völlig im Unrecht scheint mit Frau Quint mit dem Vorwurf der Geiselhaft. Neben der für Travemünde schon erwähnten Restaurierung des Seetempels und der Lesung in der Kirche gibt es auch in Lübeck ein anspruchsvolles Programm. Die Mann-Gesellschaft hält eine mehrtägige Tagung ab und das Buddenbrookhaus beschäftigt sich, auch wenn der eigentliche Standort umgebaut wird, zeitaktuell mit „Thomas Mann und die Demokratie.“ In dem Sinne dürfen Lübecker und Travemünder freudig auf das Mann-Jubiläumsjahr blicken.


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Lizenzgeber sind: Bücher und Portrait des Schülers Thomas Mann: H.-P. Haack
Besuch in Weimar Bundesarchiv
Seetempel-Bild: gemeinfrei, da um 1860 entstanden
Mann-Portrait 1906: Philipp Kester

 

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