Travemünder Häuser Nr. 54
Rose 26/28
Es ist kein großes und besonders auffälliges Gebäude zwischen dem Bahnübergang vor der Fehlingstraße und der katholischen Kirche, das Haus Rose 26/28, aber die Geschichte dieses Familienheimes ist recht spannend und reich an Travemünder Begebenheiten und Erinnerungen im 20. Jahrhundert.
Die doppelte Hausnummer war das Ergebnis eines bürokratischen Irrtums. Die Rose, der Straßenname enstand aus einer Bastion in der Befestigungsanlage Travemünde, die sich im 16.Jahrhundert zwischen der Fehlingstraße und der Trave hier befand, also die Rose wurde nach dem Abriß und der Verlegung von Wall und Graben zum Lotsenberg im 19. Jahrhundert und am Anfang des 20. Jahrhunderts gleichzeitig von der Vorderreihe und dem Mühlenberg her bebaut, und als man das Grundstück unseres Anwesens erreicht hatte, merkten die zuständigen Herren im Lübecker Katasteramt, daß ein Grundstück fehlte und man eine Hausnummer zu viel in die Unterlagen eingetragen hatte. Nach eingehender Beratung entschloß man sich daher, diesem Grundstück eine Doppelhausnummer, nämlich die 26 und 28 zu geben.
Im Jahre 1920 erwarb der Buchbinder Georg Gärtner, der Inhaber und Gründer des Papier- und Schreibwarengeschäftes Rose 4, für 3900 Reichsmark dieses Grundstück, um für seine alten Tage nach der Übernahme des Geschäftes durch seinen Sohn Karl ein nettes und bequemes Eigenheim darauf zu bauen, das er mit seiner zweiten Frau Dorothea nach der Hochzeit im Jahre 1923 bewohnen wollte, denn seine drei Kinder Karl, Margarete und Karoline waren bis auf den Nachkömmling Karoline mit dem Namen ihrer verstorbenen Mutter, schon erwachsen.
Georg Gärtner hatte schon am Ende des 19. Jahrhunderts seinem Geschäft einen Verlag angegliedert, in dem er besonders Ansichtspostkarten herstellte. Die Bilder hatte er selbst mit einem damals hochmodernen Fotoapparat, der mit lichtempfindlichen Glaspatten „geladen“ wurde, aufgenommen. Von den Bildern gibt es heute noch etliche Exemplare. Sein Sohn Karl hat von seinem Vater nicht nur gelernt, sondern den Beruf des Fotografen richtig ausgeübt. Er arbeitete natürlich nicht nur mit einem Plattenapparat, sondern benutzte später schon eine Leica. Er galt in Travemünde als anerkannter und auch beliebter „Bildberichterstatter“.
Im Jahre 1922 wurde der Grundstein zu dem Haus Rose 26/28 gelegt. Die Inflation hatte begonnen und sollte sich bis 1923 ins Unermäßliche steigern. Ein Brötchen kostete am Ende dieser maßlosen Geldentwertung eine Billion Mark. Die Baumaterialbeschaffung war denkbar schwierig und verzögerte die Bauarbeiten erheblich.Viele Lieferanten zögerten bei der rapiden Geldentwertung natürlich mit dem Verkauf ihrer Artikel. Jeden Abend klemmte sich Georg Gärtner die Ladenkasse unter den Arm, später mußte er schon einen großen Rucksack nehmen, um das eingenommene Geld sofort in Baumaterial zu investieren, denn am nächsten Tag wäre das Geld schon erheblich weniger wert gewesen. Daß Not auch erfinderisch macht, bewies der Bauherr in hohem Maße.
Für die Fensterstürze wurden Eisenbahnschienen verwertet, weiteres Material stammte aus dem Abbruch eines älteren Hauses, zum Beispiel auch die Zimmertüren. Hier hat der fleißige Georg für heutige Begriffe geradezu ein Schnäppchen gemacht. Wunderhübsche Jugendstiltüren zieren heute nach einer gründlichen Aufarbeitung die Eingänge zu den Wohnräumen.
1923 war das Haus fertiggestellt, und Georg Gärtner zog mit seiner Frau Dorothea in das neue Nest ein.
Gärtner betrieb neben seinem Geschäft in der Rose auch mehrere recht stattliche Verkaufspavillons, und zwar schon zur „Kaiserzeit“, also am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des Zwanzigsten, vor dem 1. Weltkrieg 1914 / 1918. U. a. stand ein ziemlich komfortabler Kiosk vor dem alten Kursaal, wo heute das Kurhaus Hotel steht, ein weiterer an der Vorderreihe 65a, dem Standort der heutigen „Backskiste“, vormals der Kiosk der Familie Westphal, und davor, alten Travemündern noch bekannt, der kleine, aber wohlsortierte Kiosk von „Graf Kunitz“, wie der freundliche Inhaber liebevoll genannt wurde.
1923 heiratete Karoline den jungen und flotten Lehrer Karl Drews, der an der Stadtschule unterrichtete und vielen Alttravemündern noch in guter Erinnerung ist. Das Ehepaar bewohnte das erste Stockwerk des Hauses Rose 26/28. Als 1924 Tochter Marianne geboren wurde, bemühten die Drews sich um eine größere Wohnung und fanden diese in der „Rosenburg“ am Mühlenberg.
Georg Gärtner starb 1929, seine Frau überlebte ihn um 10 Jahre. Nach ihrem Tode 1939 bezogen Karoline und Karl Drews mit ihren Töchtern Marianne und Ursula wieder das Elternhaus. Und dann begann der Krieg. 1945 heiratete Marianne den allen Travemündern bekannten und später langjährigen 1. Vorsitzenden des TSV Hans Peter Köhn. Sie bezogen den 1. Stock des Hauses. Der Krieg war ja nun beendet und Travemünde voller Flüchtlinge. Da hieß es zusammenrücken und den Wohnraum mit diesen armen Menschen teilen. Bis zu 13 Flüchtlinge fanden in der Rose 26/28 für einige Zeit ein Dach über dem Kopf. Die junge Familie vergrößerte sich ziemlich schnell. Vier Kinder wurden geboren, und in dem Hause wurde es doch etwas eng. Familie Köhn bezog 1971 ein neues Haus in der Teutendorfer Siedlung.
Nun bewohnte das Ehepaar Drews wieder allein das Haus. Und hier starb 1984 Karl Drews an seinem 87. Geburtstag. Viele Travemünder trauerten um ihren alten Lehrer. Es wurde einsam in dem Haus, das Karoline nun alleine bewohnte. Sie hatte große Angst, daß ihr Elternhaus, an dem so viele Erinnerungen an gute, aber auch schwierige Zeiten hingen, in fremde Hände übergehen könnte. Sie war froh, als ihr Enkel Matthias Köhn sich bereit erklärte, in den 1. Stock zu ziehen. Er begann auch gleich tatkräftig mit Renovierungsarbeiten. Oma Drews erlebte noch mit großer Freude die Hochzeit von Matthias mit Stefanie Stoffers.
1988 mußte sie ihr geliebtes Haus nach einem Kellertreppensturz verlassen und erholte sich von diesem unglücklichen Ereignis nicht mehr.
Im Jahre 1989 bezog der Urenkel des Erbauers Georg mit seiner jungen Familie das Haus und bekam einer Familientradition folgend drei Kinder, Johannes, Julia und Viktoria. Seit 1994 laufen umfangreiche Modernisierungsarbeiten, die noch nicht abgeschlossen sind. Mit frisch gedecktem Dach, renovierter Fassade und neuen Fenstern sieht das Haus wieder frisch und jugendlich aus. Und die wunderhübschen Zimmertüren erinnern immer an Urgroßvater Georg, der sie vor 80 Jahren aus einem alten Abbruchhaus rettete. Nun bewohnen seine Ururenkel dieses hübsche Haus, erfüllen es mit fröhlichem Leben und werden hier eine glückliche Kindheit verbringen. Das wünschen wir von ganzem Herzen.
Sie sehen, lieber Leser, ein kleines Haus kann auch eine große Geschichte erzählen.
Übrigens, das Fachgeschäft, das Georg Gärtner am Ende des 19. Jhd. gegründet hat, ist immer noch mit dem Hause Rose 4 in Familienbesitz. Nach dem Ausscheiden von Karl Gärtner übernahm Ursula Friedrichsen geb. Drews das Geschäft und die Wohnung. Mit ihrer Tochter Susanne Rix geb. Friedrichsen betreibt sie das kleine Unternehmen in bewährter Familien- tradition. So sorgen auch in diesem Hause Enkelin und Urenkelin für den Fortbestand des Erbes von Georg Gärtner. Damit gehört das Fachgeschäft Karl Gärtner mit zu den ältesten Familienunternehmen in Travemünde.
Helmuth Wieck
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