Travemünder Häuser Nr. 58
Fehlingstraße 28
Haus Lütgens
Einhundert Jahre wird es alt, das Haus Fehlingstraße 28, direkt am Weg zum „Tunnel“, wie die Travemünder die kleine Eisenbahnunterführung etwas großspurig nennen. Wenn man die Gebäude auf der anderen Straßenseite betrachtet, erkennt man unschwer, daß hier vor hundert Jahren die Bebauung der Fehlingstraße aufhörte. Erst kurz vor dem Godewindpark mit seinen zwei Teichen stehen wieder ein paar Häuser aus der Gründerzeit z.B. das Park-Hotel. Die beiden Häuser Fehlingstraße 30 und 32 wurden 1926 gebaut, die danach folgende Siedlung erst 1936 mit der Erweiterung der Luftwaffen-Erprobungsstelle auf dem Priwall. Für die Ingenieure und Angestellten, auch für das Luftwaffen-Flugpersonal benötigte man Wohnraum. Zwischen der Fehlingstraße 28 und dem Park-Hotel erstreckten sich die herrlichsten Obst- und Gemüsegärten.
Als unser Haus am Anfang des Jahres 1914 geplant wurde, lebte die Bevölkerung des Deutschen Reiches mit seinem Kaiser Wilhelm II. in einem Rausch der Unbezwingbarkeit. Die Einwohnerzahl war im Laufe der vergangenen hundert Jahre um mehr als das Doppelte auf 65 Millionen angewachsen. Das Kaiserreich beherrschte Kolonien in Afrika im Pazifik und sogar einen Stützpunkt auf chinesischem Boden: Tsingtau. Die Kriegsmarine war gewaltig aufgerüstet worden und sollte den Briten Paroli bieten, das größte Passagierschiff der Welt, die VATERLAND, war bei Blohm & Voß in Hamburg für die HAPAG gebaut worden und mit 56.000 BRT und 23 Knoten größer und schneller als die TITANIC, in der Luft fuhren die majestätischen Luftschiffe des Grafen Zeppelin schon von Stadt zu Stadt, und auf dem Boden gewannen die ersten Mercedes-Rennautos ein Rennen nach dem anderen. Darauf waren die Deutschen richtig stolz. Die durch die Industrialisierung entstandenen sozialen Probleme übersah man in den „besseren Kreisen“ geflissentlich. An einen Krieg hat der brave Bürger zu Beginn des Jahres 1914 noch nicht gedacht. Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat auch in Travemünde deutliche Zeichen hinterlassen, und der Besuch Kaiser Wilhelm II. 1913 anläßlich der Travemünder Woche hatte das Seebad ordentlich aufgewertet. Auch die international bekannten Pferderennen auf dem Priwall trugen zur positiven Entwicklung Travemündes bei. Darum ist es nicht weiter verwunderlich, daß um die Jahrhundertwende bis zum Kriegsausbruch 1914, und sogar noch ein paar Jahre danach in der Gewißheit eines triumphalen Sieges, viele Häuser gebaut wurden, die in der fröhlichen Erwartung auf zahlreiche Kurgäste zum großen Teil schon entsprechend konzipiert worden waren. Auch der vordere Abschnitt der damals neuen Kaiserallee wurde damals bebaut.
Aber wie man an vielen Häusern in der Kurgartenstraße und in der damals auch noch jungen Fehlingstraße, die ja an Bauernland grenzte, unschwer erkennen kann, wurde auch im Bereich von Alt-Travemünde kräftig gebaut. Pfiffige Travemünder Maurer-, Zimmerermeister- und Tischlermeister, die sich auf Grund ihrer guten handwerklichen Kenntnisse als gute Baumeister erwiesen hatten, haben besonders das Ortsbild von Neu- Travemünde, wie man damals zu sagen pflegte, entscheidend mitgeprägt. Es seien nur genannt der Maurermeister Hobe, der viele Häuser in der Kaiserallee gebaut hat, und der „Architekt“ Schmidt, der Bruder vom gleichnamigen Tischlermeister. Unter anderem soll er die Häuser Fehlingstraße 5, 7, 15, 17 und 19 gebaut haben.
Besonders bekannt ist der Maurermeister Friedrich Asmus Heinrich Söhrmann geworden. Der spätere Stadtbaumeister ist verantwortlich für den nach ihm benannten Söhrmann-Damm, der das Brodtener Ufer vor dem Abbruch schützen sollte. Leider ist nur ein relativ kurzes Stück fertiggestellt worden, weil einmal das nötige Geld fehlte, und zum anderen Experten festgestellt hatten, daß auch nachteilige Auswirkungen entstehen könnten. Darüber muß der Chronist allerdings einmal gesondert berichten. Dieser wackere Baumeister Söhrmann besaß in Travemünde etliche Grundstücke, u. a. auch die Parzelle Fehlingstraße 28. Er bebaute diese Grundstücke mit schmucken Häusern und verkaufte sie dann als „Fertighaus“ an mehr oder weniger betuchte Mitbürger, die diese Gebäude als Ferienwohnungen für Kurgäste benutzen wollten.
Im Mai 1914 erwarb Söhrmann das Grundstück Fehlingstraße 28 für 3610 Mark, für die damalige Zeit eine Menge Geld, um ein modernes für Kurgäste geeignetes Haus schon mit komfortablen Badezimmern ausgestattet, darauf zu bauen. Ob er das Gebäude selbst genutzt oder vermietet hat, geht aus den Grundbucheintragungen nicht hervor. Selbstverständlich gab es auch damals schon strenge Auflagen für den Häuserbau, wie der folgende Eintrag in das Grundbuch beweist.
Da sicher nur noch die älteren Travemünder die deutsche Schrift lesen und vielleicht sogar noch schreiben können – leider, wie der Chronist meint – folgt eine „Übersetzung“:
Das Grundstück darf nur mit solchen Gebäuden, welche den Vorschriften den § 4 des Vertrages vom 4. April 1914 entsprechen und dem Plan vor Beginn des Baues von dem Finanzdepartement genehmigt ist, bebaut werden. Die Außenwände sowie das Dachgeschoß dürfen ohne Genehmigung des Finanzdepartements nicht verändert werden.
Beschränkte persönliche Dienstbarkeit zu Gunsten des Lübeckischen Staates (Finanzdepartement) eingetragen am 12. Mai 1914 im Range vor Abt. III Nr. 1 (3610 Mark).
gez. Seitz gez. Schöning
Für heutige Verhältnisse aber sind die Bauvorschriften doch recht moderat und entsprechend leicht einzuhalten gewesen. Am 4. Juli 1918 wechselte das Haus den Besitzer. Während der Kriegsjahre 1914-1918 war nur ein stark eingeschränkter Kur- und Badebetrieb möglich mit einer entsprechend geringen Zahl von Kurgästen. Vielleicht war diese Tatsache der Grund für den Verkauf des schönen Hauses.
Der neue Besitzer hieß Heinrich Klaus Friedrich Wegner, seine mit eingetragene Ehefrau hörte auf den Namen Emilie Johanna Emma geb. Aster. Ihnen gehörte nun das Haus zu gleichen Teilen. Heinrich Wegner war von Beruf Postmeister in Travemünde. Sein amtlicher Titel lautete Oberpostassistent, und das war damals ein gehobener Beamter.
In dem Haus befand sich auch eine Kellerwohnung, ebenfalls mit Bad, die zeitweise von einer Familie Ries bewohnt wurde. Offensichtlich war man als Feriengast bei Wegners gut aufgehoben, denn das Haus konnte viele treue Stammgäste beherbergen, die immer wieder bei ihnen ihre Ferien verlebten. Es waren schwere Zeiten zu überstehen, die galoppierende Inflation 1922/23, die Weltwirtschaftskrise 1929, die in Deutschland zu einer schrecklichen Arbeitslosigkeit führte, und schließlich der 2. Weltkrieg 1939 bis 1945. Viele Bombengeschädigte und Flüchtlinge suchten in Travemünde Zuflucht und ein Dach über dem Kopf. In allen Häusern fanden die armen Menschen Unterkunft, natürlich auch im Haus Wegner. Erst während der fünfziger Jahre normalisierte sich langsam die große Wohnungsnot. Neubauten in der Teutendorfer Siedlung, am Steenkamp und vielen anderen Ortsteilen halfen, für viele Neu-Travemünder vernünftigen Wohnraum zu schaffen. Das Ostseeheilbad Travemünde erlebte einen neuen Aufschwung. Nachdem ihr Mann gestorben war, bewirtschaftete Emilie Wegner die Pension noch einige Jahre weiter, zuletzt mit Unterstützung ihrer Schwiegertochter und ihres Sohnes, die das Haus nach dem Tod der sehr alt gewordenen Emilie Wegner schließlich erbten.
Im Jahre 1972 übernahmen Hans und Rita Lütgens das gemütliche alte Gebäude mit dem schönen Fachwerkgiebel und führten die Pension nun unter dem Namen Haus Lütgens weiter, bis 1995 noch als „Hotel garni“ mit Frühstück. Danach wurde das Haus renoviert, modernisiert und sechs gemütliche Ferienwohnungen eingerichtet, alle natürlich mit Duschbädern und einer modernen Küchenzeile versehen, um den Urlaub als „Selbstversorger“ verbringen zu können. Das Haus Lütgens ist für viele Familien, die ihren Urlaub in Travemünde verleben, zum Begriff für Bequemlichkeit und Erholung geworden.
Hundert Jahre wird es nun alt, das Haus Fehlingstraße 28. Es hat viel erlebt in dieser langen Zeit. So wie es jetzt aussieht, kann es sein Lebensalter durchaus noch verdoppeln, wenn die Welt friedlich bleibt. Dem Ehepaar Lütgens wünschen wir weiter eine gute Hand zum Wohle ihrer Gäste.
Helmuth Wieck
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