Travemünder Häuser Nr. 61
Strandpromenade 1 und 2
Das große Grundstück, auf dem heute das MARITIM-Hochhaus und das marode AQUA TOP die Landschaft nachdrücklich und unübersehbar prägen, befand sich vorher eine idyllische Parkanlage, der Friedrichs-Hain. Bewachsen war er mit alten Buchen und Eichen. Der Schöpfer dieses großen Gartens war Heinrich Behrens (1804-1874). Behrens war in der Mitte des 19. Jahrhunderts viele Jahre lang Besitzer der Seebadeanstalt Travemünde, wie das Ostseebad damals offiziell hieß, und begeisterter Botaniker. Er ist der Schöpfer der Parkanlagen rund um das Kurhaus. Er kaufte sogar den Ziegelberg (Kalvarienberg), um den weiteren Abbau von Ton für die Ziegelherstellung zu verhindern. Er richtete eine Gärtnerei ein, die auf dem Hügel Rosen züchtete, die bald europaweit berühmt war. In seinem großen Garten neben seinem leider abgerissenen Sommerhaus (Lembke-Behrens-Haus) standen zwei große Gewächshäuser, in denen er allerlei tropische und amerikanische Bäume und Sträucher, die er sich aus Übersee hatte schicken lassen, für die Auspflanzung in seinem Kurpark heranzog. Er hatte auch etliche Weinstöcke in den Glashäusern, die herrlich gediehen.
Das neue Wäldchen erstreckte sich bis an den Strand. Die im streng klassizistischen Stil vom dänischen Architekten Lillie, dem Lübecker Stadtbaumeister, errichteten Gebäude, das Lembkehaus, das erste Kurhaus mit dem Arkadenhaus und das Hansahotel mit den neugeschaffenen Parkanlagen bildeten damals das Zentrum der Seebadeanstalt Travemünde. Da, wo heute die Bertlingstraße verläuft, war Schluß mit der Herrlichkeit. Das sollte sich aber am Ende des 19. Jahrhunderts schlagartig ändern. Einer der Auslöser dieser Fortentwicklung des Ostseebades war, man glaubt es kaum, ausgerechnet eine Naturkatastrophe, die Travemünde und die gesamte Ostseeküste heimsuchte. Am 13. November 1872 richtete eine mächtige Sturmflut gewaltige Schäden an. Viele Häuser wurden zerstört, weite Landflächen überflutet, viel Vieh ertrank und auch Menschen starben oder wurden verletzt. Zuerst muß das Entsetzen groß gewesen sein, aber nachdem die schlimmsten Schäden erst einmal registriert worden waren, begann der Wiederaufbau. Außerordentlich hatte die Seebadeanstalt gelitten. Die Beseitigung der Zerstörungen an Gebäuden und Gartenanlagen kostete etwa 60000 Mark. Für die damalige Zeit ein ganz hübsches Sümmchen. Noch schlimmer als dieser Verlust war der Mangel an Trinkwasser. Die salzige Flut hatte alle Brunnen gefüllt und das Wasser untrinkbar gemacht. Gutes Trinkwasser mußte aus den umliegenden Dörfern und selbst aus Lübeck herbeigeschafft werden.
Eines aber war dem hohen Senat klar geworden. Der Küstenschutz war miserabel, und eine solche Sturmflut konnte jederzeit wieder über Land und Leute hereinbrechen. Ein Deich, ein Ostseedeich könnte Schutz bieten. Der Konsul Fehling hatte die für Travemünde glorreiche Idee. Er wollte Deichschutz und eine Strandpromenade kombinieren. Er hatte solche sturmerprobten Bauten in den Bädern an der englischen Küste schon bewundert, die sogar dem Atlantik trotzten. Nun setzte er diese Idee in Travemünde um. Es entstand wenige Jahre nach der Flut die Travemünder Strandpromenade mit ihrem steinernen Schutzdeich von der Nordermole bis zum Dünensattel, auf dem sich heute der umstrittene Grünstrand befindet. An diesen natürlichen Schutzwall schloß sich das Brodtener Steilufer an, und damit war Travemünde vor den Auswirkungen einer Sturmflut weitgehend geschützt. Das Land hinter der Strandpromenade bot nun hochinteressante Baugrundstücke, die ebenfalls ganz nach englischem Muster auf ihre Häuser warteten.
Der Bauboom bekam aber noch durch einige weitere Faktoren ordentlichen Schwung. Die Kaiserreichsgründung und der Anschluß Travemündes an das Eisenbahnnetz der Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft verband plötzlich den kleinen Kurort mit Lübeck, Hamburg und Berlin.
Einige Travemünder Handwerksmeister und Kaufleute erkannten den Trend der Zeit und kauften von der Stadt als Grundstückseigentümer noch relativ billiges Bauland an der neuen Strandpromenade, der Kaiserallee, auch an der Fehlingstraße und rund um die „Karpfenteiche“ am heutigen Godewindpark.
Einer von ihnen war der Tischlermeister Julius Schmidt (1845-1919). Er wohnte später in der Hinterreihe 112a (heute Kurgartenstraße) und hatte die Tischlerwerkstatt von seinem Vater geerbt. Seine Erben betreiben in dem Stammhause Kurgartenstr. 123 heute ihr Beerdigungsunternehmen.
Julius Schmidt, dessen Vater auch schon beim Aufbau des Kurbetriebes maßgeblich beteiligt und nicht ganz unvermögend war, hatte mehrere Grundstücke an der Kaiserallee und an der Strandpromenade erworben und unter diesen die Parzellen Strandpromenade 1 bis 3.
Julius Schmidt, der nach dem frühen Tod des Vaters seine Mutter und vier unmündige Geschwister versorgen mußte, war ein ungemein fleißiger und kreativer Tischler- und Baumeister. Er baute auf eigene Rechnung ein Haus nach dem anderen, u. a. auch unsere beiden Häuser Strandpromenade 1 und 2. Die Häuser wurden möbliert und mit allen notwendigen Einrichtungsgegenständen bis hin zum Tafelsilber an wohlhabende Geschäftsleute vermietet oder verkauft. Alle Häuser bekamen einen wohlklingenden Namen. Hießen in der Reihenfolge 1 bis 4: Rose Marie, Anne Marie, Villa Augusta und Villa Marienlust. Daneben stand das Hansa Hotel. Die Häuser von Julius Schmidt waren zwar alle verschieden, hatten aber echte „Markenkennzeichen“: Lasierte Dachziegel, Veranden, reichverzierte Holzarbeiten an den Giebeln und wunderbare Treppenhäuser und Fußböden. Der alte Stadtbaumeister Lillie hätte den Baustil sicher furchtbar gefunden und sich im Grabe umgedreht, denn dieser neue „Bäderstil“ hätte sicher nicht seinen strengen Ansprüchen an die Architektur genügt. Für unsere heutige Gesellschaft sind die verspielten Gebäude mit den Jugendstilelementen vor allen im Inneren kleine architektonische Kostbarkeiten.
Beide Häuser, Strandpromenade 1 und 2 wurden in den Jahren 1904 und 1905 erbaut. Die Baukosten beliefen sich auf Mk. 28.000 und Mk. 32.000. Bereits ein Jahr später am 1. April 1906 verkaufte Schmidt die Häuser mit Gewinn inclusive „schmiedeeisernem Gitter“ an Arnold Amsinck aus Hamburg. Familie Amsinck und die nächsten Verwandten besaßen und bewohnten die Häuser bis Kriegsende 1945. Sie wurden aber auch untervermietet. Im Haus Nr. 2 hat auch der bekannte Flugkapitän Henze von der Erprobungsstelle der Luftwaffe auf dem Priwall gewohnt.
Der Blick auf die Ostsee war allerdings bis 1951 etwas gestört, denn die große hölzerne Badeanstalt behinderte etwas den freien Ausblick, bis sie schließlich wegen Baufälligkeit abgerissen werden mußte.
Nach Kriegsende 1945 besetzten die Briten Travemünde. Sie hatten wohl die Vorteile des Ostseebades erkannt und richteten sich besonders in den Häusern im Kurbereich ein. Sie waren ja auch so schön englisch. Offiziere bewohnten immerhin bis etwa 1948 die vier Häuser an der Strandpromenade. Sie wurden abgelöst von Flüchtlingsfamilien. Beide Gruppen hatten natürlich Spuren hinterlassen. Aber die schönen Jugendstiltreppen und Paneele dürfen wir noch heute bewundern.
Dann wechselten die beiden Häuser ihre Besitzer. 1949 erwarb die allen bekannte Familie Wendelborn das Haus Nr. 2, und 1953 kaufte der Kaufmann Klatt die Nummer 1.
Und sie wohnten mit ihren Familien ungestört und friedlich viele Jahre in ihren schönen Wohnungen am Strand von Travemünde, bis plötzlich großes Unheil diesen Frieden störte. Ein Hochhaus mit einem modernen Hotel und Eigentumswohnungen sollte hier gebaut werden. Und es wurde gebaut, das MARITIM. Als die Vermessungstrupps anrückten, hatten sich Bürgerschaft, Kurver- waltung und auch der Gemeinnützige Verein für den Bau des riesigen Gebäudes ausgesprochen, obwohl die Travemünder das Projekt ablehnten. Der Friedrichs-Hain mit seinen angrenzenden Grundstücken schien der ideale Standort für dieses Hochhaus zu sein. Der größte Teil des Friedrichs-Haines mußte geopfert werden, das Hansa-Hotel, die Warmbadeanstalt, der Hockeyplatz und die Häuser Strandpromenade 1 bis 4 mußten weichen, um die diesem Großprojekt mit Schwimmhalle Platz zu schaffen. Die Häuser an der Strandpromenade waren zwar nicht direkt betroffen, aber sie störten offensichtlich das Umfeld dieses Projektes. Hotel Augusta, die Nachbarvilla und das Hansahotel gehörten der Stadt, sie konnten also problemlos abgerissen werden. Aber die Besitzer der Häuser 1 und 2 konnten nicht begreifen, warum ihre liebgewordenen Wohnungen weichen sollten, da sie gar nicht im direkten Baugebiet lagen. Es begann ein anstrengender Kampf um diese Grundstücke, der teilweise mit recht unlauteren Mitteln geführt wurde. Schließlich haben sie ihr Recht bekommen, die beiden Familien. Und nun hausen sie am Fuße des MARITIM und sind glücklich und zufrieden. Mittlerweile wohnen schon wieder Enkelkinder auf dem Doppelgrundstück, da sich beide Familie
Helmuth Wieck
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