25 Jahre Grenzöffnung Pötenitz - Priwall

25 Jahre Grenzöffnung Pötenitz-Priwall 1990

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, 25 Jahre ist es her, dass die Grenzöffnung auch auf dem Priwall erfolgte: der Beginn einer Wiederannäherung der west-und ostdeutschen Nachbargemeinden.
Dr. Hans Hagelstein, seinerzeit 1 Vorsitzender des GVT, hat dazu seine Geschichte aufgeschrieben, die er am 3. Februar 2015 im Pötenitzer Gemeindehaus mündlich vorgetragen hat und viele Zuhörer(innen)damit bewegte.

Durch ein altes Standfernglas schaute der fast dreijährige Junge auf einen menschenleeren Strand auf der anderen Seite der Lübecker Bucht. Welch ein Unterschied zu dem bunten Treiben vor der Kaiserallee 49, wo sich zahlreiche Familien am Strand und in den Strandkörben sonnten.
Die Fenster des Hauses wurden oft in der Nacht von zwei starken Suchscheinwerfern von Mecklenburg aus hell erleuchtet und man hörte das wütende Bellen der Wachhunde.
Geschichten aus dunklen Nachkriegstagen machten die Runde: die Geschichte der einstigen Hofbesitzerin, die durch die Lübecker Bucht mit ihrem Hund schwimmend floh und nun die Kartoffelfelder der Bauern für ihren Lebensunterhalt nachts bewachte und früh morgens traurig auf ihren enteigneten Hof vom Brodtner-Ufer aus blickte.
Wie die Geschichte der jungen Frau vom Ostsee-Hotel in der Kaiserallee 55, die mit dem Faltboot nach Mecklenburg paddelte und diese Rückkehr mit dem Leben bezahlte.

25 Jahre Grenzöffnung Pötenitz - Priwall

Mein väterlicher Großvater Alfred Hagelstein wurde im Radio der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) als Revanchist und Kriegstreiber beschimpft, da er eine Reparaturwerft auch für die Bundesmarine betrieb.
Als mein Vater, der spätere Honorarkonsul Hans Hagelstein, nach seinem Tod, Feldarbeitsgeräte für die Bundeswehr baute, wurde ein Zivilgerät fälschlicherweise nach Tangermünde geschickt. Die Geldstrafe der DDR bezahlte mein Vater nicht und wurde so zu einer Haftstrafe verurteilt.

Insofern war es für mich unvorstellbar, durch die Zone nach Berlin oder Ost-Deutschland zu reisen. Beim Segeln in der Lübecker Bucht passte ich höllisch darauf auf, nicht der Mecklenburger Küste zu nahe zu kommen. Erzählungen von Segelfreunden, die erst nach Stunden die Heimfahrt antreten konnten, den Freikauf des eigenen Bootes und seinen Rücktransport über den Landweg zahlen mussten, mahnten auch wie die Tatsache, dass ich denselben Vornamen wie mein Vater (Hans) habe, zur besonderen Vorsicht.

Am 9. November 1989 abends befand ich mich auf der Rückfahrt nach Hamburg auf der A1 bei Buddikate als ich im Radio hörte, dass Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, auf einer Pressekonferenz im Radio der DDR sagte, dass die Ausreise für DDR-Bürger ab sofort möglich sei.

Zu diesem Zeitpunkt war ich Vorsitzender des Gemeinnützigen Vereins zu Travemünde von 1848 (GVT) und entwickelte in einer Vorstandssitzung Überlegungen zu einer Öffnung des Grenzübergangs auf dem Priwall. Es war klar, dass der GVT aus Satzungsgründen keine Aktivitäten vornehmen konnte. Persönlichen Gespräche wie auch das Ins-Leben-Rufen einer engeren Zusammenarbeit der Travemünder Vereine wurden akzeptiert.

25 Jahre Grenzöffnung Pötenitz - Priwall

Noch im November 1989 überzeugte ich mich mit meiner schwedischen Frau von den Vorgängen in Berlin. Während ich mit bundesdeutschem Personalausweis in Berlin an mehreren Grenzübergangsstellen hätte passieren können, wurde meiner Frau der Übergang als Schwedin versagt. Am Checkpoint Charly hätte meine Frau zwar einreisen, nicht aber ich passieren können. So unterblieb der Besuch Ost-Berlins.

Nach der Reise mit dem PKW über die innerdeutsche Grenze beschloss ich, als Vorsitzender des GVT, einen Brief an den Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow zu schreiben und um einen Grenzübergang auf dem Priwall zu bitten. Meiner erstaunten Mitarbeiterin Silvia Klaus gab ich den Text auf, den sie mit großem Erstaunen in die DDR sandte.

Da ich aus Erfahrung wusste, dass man eine genügend große Legitimation besitzen musste, hatte ich die „Versammlung Travemünder Vereinigungen“ (VTV) mitbegründet, so dass wir auf eine Gesamtzahl an Mitgliedschaften allein der Travemünder Vereine von circa über 15.000 Mitgliedern (bei ca. 12.000 Einwohnern) mit dem „Sprecher“ GVT verweisen konnten. Der Brief wurde jedoch nie beantwortet.

Es war zunächst für mich nicht einfach, in Kontakt mit der Gemeinde Pötenitz zutreten. Die Gemeinde befand sich in der 5-km-Sperrzone und der erste Besuch konnte erst nach einem Telefongespräch mit der Bürgermeisterin Gundula Frehse am 09.01.1990 und einer förmlichen Einladung des Gemeinderats stattfinden. Ob und wann dieser erste Kontakt durch Vermittlung meiner Mandanten, des Kombinat Schiffbau in Rostock stattfand, weiß ich nicht mehr.

Ich kann mich an ein gemeinsames Gespräch mit Peter Köhn, dem Vorsitzenden des Turn- und Sportverein von 1860 e. V. (TSV) vor der Fahrt nach Mecklenburg erinnern, an dem ich Peter sagte, dass wir uns darüber einig sein müssen, dass die Gemeinde Pötenitz, beziehungsweise die DDR, ihre Grenze öffnet und wir lediglich unsere Nachbarn begrüßen.

Ich erzählte von einem Ereignis Anfang der 1980er Jahre auf einer der äußeren Schäreninseln vor Stockholm. „Du bist der einzige Erwachsene auf der Insel Onkel Hans. Ein Segler ist in Seenot.“ Ich fuhr mit dem kleinen Angelboot hinaus auf die offene, stürmende See. Als ich den Surfer erreichte, fragte er: „Verdammt, was willst Du?“ „Ich will Dich retten!“ „Ich will nicht gerettet werden, ich übe Wasserstart.“

Ich stimmte mich mit Peter und Wilhelm Wolter (Stellvertretender Vorsitzender GVT) ab. Wir befreien nicht, wir mischen uns nicht ein und kommentieren keine politischen Verhältnisse oder Vorgänge. Es gibt wohl kaum einen Verein, der als Vereinszweck die Hilfe einer Nachbargemeinde zur Öffnung einer Staatsgrenze in der Satzung hat. Es handelt sich um eine Art übergesetzliche Situation.

Ich ging davon aus, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) „VEB Hoch und Guck“ ständig mit dabei ist, alles abhört und alles steuert.

Als wir zum ersten Mal auf Einladung der Gemeinde nach Pötenitz am 18.01.1990 fahren konnten, waren nach meiner Erinnerung Peter Köhn (TSV), Uwe Führer (Leiter Polizeiwache Travemünde), Wilhelm Wolter (GVT), Michael Lempe (Verein der Priwallbewohner) und ich dabei.
Um mich besser orientieren zu können, zeigte mir zuvor Uwe Führer Luftbilder des Grenzverlaufs.

Gutshaus - Schloß Pötenitz

Im Gutshaus (Schloß Pötenitz) trafen wir auf den Gemeinderat mit Gundula Frehse als Bürgermeisterin. Eine junge, etwa 25-jährige, blonde Mecklenburgerin, die so gar nicht meinem Bild einer DDR-Bürgermeisterin in der Grenz- und Sicherheitszone entsprach. Ich äußerte mich formell, „staatstragend“ und benutzte die politischen Begriffe der DDR. Der Volkspolizist sollte mit Herr Major angesprochen werden. Nur mein Freund Peter ließ sich nicht bremsen und seine Lockerheit ließ sich nur mit Mühe im Zaun halten. Sein Schienbein muss nach meinen Einwirkungsbemühungen noch tagelang geschmerzt haben. Es wurden zu meiner Überraschung jedenfalls im Ergebnis weitere Gespräche vereinbart.

Am 22.1.1990 hatten die Grenztruppen der DDR das Einverständnis gegeben, dass der Gemeinderat Pötenitz mit ausgewählten Vertretern der VTV an den Strand und die Grenze von Pötenitz gehen konnte. Am 23.01.1990 erschien hierzu ein Bericht in den Lübecker Nachrichten (LN). Für die VTV waren Peter Köhn (TSV), Uwe Führer (Polizeidienststelle Travemünde), Wilhelm Wolter GVT), Michael Lempe (Verein der Priwall Bewohner) und ich wieder dabei.
Major der Grenztruppen Michael Heinze führte die Gruppe an. Vom Herrenhaus (Schloß Pötenitz) ging es direkt an den Strand. Heinze befahl ein letztes großes Tor zu öffnen, und dann befanden sich die Pötenitzer zum ersten Mal seit 1953 und wir uns an der Ostsee. Alle gingen geführt und begleitet von Heinze und Grenzsoldaten in Richtung Bundesrepublik. Ich blieb hinter Heinze (gab es noch Minen?) zurück, während die Mitglieder des Gemeinderats über die Grenze auf dem Priwall entschwanden. Zuletzt standen Heinze und ich auf einer Anhöhe Richtung Mecklenburger Landstraße vor einem Grenzstein zur BRD. Ich sagte: „Bitte nach Ihnen, Herr Major“. Kein BGS, Zoll, Polizei oder sonstiger Uniformierter war zu erblicken. Heinze erwiderte, dass er in Uniform die Grenze nicht passieren könne und nach Pötenitz zurückgehen wolle. Ich habe ihm gesagt, dass ich schon öfters „drüben“ war (er vermutlich auch?) und begleitete ihn zurück.

Am 27.01.1990 besuchte der Gemeinderat Pötenitz unter Führung von Gundula („Gundi“) Frehse auf Einladung des GVT Travemünde und es wurde konkret die offizielle Grenzöffnung geplant. Michael Lempe informierte Priwall-Bewohner, Uwe Führer BGS, Polizei und Behörden, und ich Vereine und Politik.
Das Datum der Grenzöffnung über den Strand wurde auf den 3. Februar 1990, 10:00 Uhr festgesetzt. Bereits 9:35 Uhr waren die zahlreichen Besucher in Mecklenburg nicht mehr zu halten.
Die Grenztruppen öffneten die Tore, so dass die Mecklenburger sich bereits am Strand auf dem Priwall befanden, als der Lübecker Bürgermeister Michael Bouteiller und ich in letzter Minute, ca. 09:45 Uhr, erschienen, da die Fähren trotz ständiger Überfahrten nahezu überlastet waren.
Auch durch die bewährte Pressearbeit unseres Pressereferenten Stephan Krüger feierten geschätzte 35.000 Menschen auf dem Priwall die Grenzöffnung. Mit meiner Frau ging ich durch das Tor nach Pötenitz (die Ausweise wurden im Gegensatz zu Berlin nicht kontrolliert). Die Fähren waren an diesem Tage kostenfrei.

25 Jahre Grenzöffnung Pötenitz - Priwall

Ich erfuhr aus den Medien, dass die Bundesrepublik die Wiederherstellung der Straßen zwischen Ost- und Westdeutschland unterstützte. Leider musste ich lesen, dass bereits Bayern und Hessen die freigestellten Mittel in ihren Bundesländern zum Großteil verbraucht hatten. In Lübeck wurde die Priorität auf Schlutup/Selmsdorf gesetzt. Das Argument mit Deutschlands nördlichstem Grenzübergang half nur wenig. Lübeck selber hatte kein Geld, wünschte aber alles Gute.

Nun versuchte aber „Gundi“ Frehse von der Gemeinde Pötenitz die Straße über einen neuen Plattenweg zu schaffen. Die Planierarbeit sollte eine alte Raupe, genannt „Stalin“, besorgen. Leider hatte diese Raupe normalerweise jeweils nach wenigen Metern eine Ketten-Blockade und brach unkontrolliert entweder nach rechts oder links aus.

Ungefähr in dem Zeitraum nach der Stürmung der MfS-Zentrale in der Normannenstrasse in Berlin am 17.01.1990 war auch der Kontakt mit den Grenztruppen und nach Ablösung von Heinze mit „Gundi“ Frehse einfacher geworden. Der Heinze vorgesetzte Oberst Grünwald, der die Nordgrenze der DDR verantwortete, schien nichts mehr gegen eine Straßenverbindung zwischen Pötenitz und dem Priwall zu haben. Widerstände der bundesdeutschen Bevölkerung gegen die Herstellung der alten Landverbindungen bestand bei nahezu allen Grenzübergängen, wie ich aus der Presse erfahren musste. So galt es, zügig die aufgenommenen wenigen Meter der Mecklenburger Landstraße in der DDR wiederherzustellen.

Anfang April 1990 informierte Uwe Führer den Bundesgrenzschutz darüber, dass die DDR die Wiedereröffnung der landfesten Verbindung zum Priwall am 12.04.1990 durchführen wollte. Kurze Zeit vorher erfuhr ich telefonisch von „Gundi“ Frehse, dass die Raupe ihre bekannten Aussetzer hatte und mit Kettenschaden ausgefallen war.

Architekt und Investor Werner Gaedeke ließ gerade auf der ehemaligen Schlichting-Werft die Hallen abbrechen, um den „Rosenhof“ zu erstellen. Er gab mir sein Einverständnis und den Rat, mich an den Abbruchunternehmer Paul Scheel zu wenden. Nach seiner Genehmigung stand ich vor dem Spezial-Baggerführer eines riesigen Schaufelladers. Nach Schilderung der „historischen“ Situation, lehnte Karl-Heinz („Kalle“) Diester zunächst kategorisch ab, da das Gerät weder Straßenzulassung besaß, noch die „Grenzverletzung“ ohne Folgen bleiben würde. Plötzlich traten „Kalle“ vor mir Tränen in die Augen und er erklärte, aus der DDR geflohen zu sein und war sofort bereit zur Tat. Er fuhr mit mir auf der Außenleiter des Laders auf der Mecklenburger Landstraße in Richtung Grenze. Ein plötzlich vor uns auftauchender BGS-Beamter wollte uns zunächst nicht durchfahren lassen. Erst nach Verweis auf die grundgesetzliche verbriefte Freizügigkeit und Mitteilung der Gespräche mit seinen Vorgesetzten ließ er uns weiterfahren.
An der Grenze standen im Westen fassungslose BGS-Beamte und von Osten kamen DDR-Grenztruppen, die nur den Schaufellader mit ausgerechnet mir auf der Außenleiter durchfahren ließen. Wir planierten in möglichst gerader Fortsetzung der Mecklenburger Landstraße mit einem ängstlichen Mitfahrer, der gerade die Zusage, dass es keine Minen im Grenzgebiet mehr gab, am eigenen Leib überprüfte. Es gehört zu den Besonderheiten, dass unsere DDR-Nachbarn mit Hilfe eines DDR-Flüchtlings die Land-Verbindung herstellten; ein Wessi (ich) versuchte, den Lader möglichst gerade zu führen (was außer einem Schlenker funktionierte).

Am 12.04.1990 übergaben schließlich Oberst Grünwald, Chef der DDR-Grenztruppen Nord und Diethelm Brücker, Kommandeur des Bundesgrenzschutzes die wiederhergestellte Straßenverbindung den Bürgern.
Die ständig mit großem persönlichen Einsatz tätige Fotografin des GVT, Liselotte Schröder, lichtete den Augenblick ab. Näheres ist im Buch oder im Internet von Rolf Fechner nach zu lesen.

Mein persönlicher Dank gilt nicht nur den Genannten, den zahlreichen Unterstützern und Vereinen, sondern auch und besonders der Gemeinde Pötenitz.

P.S. (2015/nach 25 Jahren)
Oft scheint es schwieriger,
Grenzen in unseren Köpfen zu verschieben,
als Grenzsteine zu räumen.

Dr. Hans Hagelstein

Fotos: Rolf Fechner, Roswitha Pape, Lieselotte Schröder

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