200 Jahre Ostseebad Travemünde
sind sicher Grund genug, um mit vielen festlichen, sportlichen und kulturellen Veranstaltungen im Jahre 2002 diesen Geburtstag gebührend zu feiern. Dieser historische Feiertag sollte besonders Hoffnung auf eine gute, erfolgreiche Zukunft des Seebades Travemünde bei allen beteiligten und verantwortlichen Personen und Behörden wecken, aber auch Anlaß sein, rückblickend die vergangenen 200 Jahre Entwicklung der Seebadeanstalt Travemünde zum Ostseeheilbad mit internationalem Ruf Revue passieren zu lassen und die dabei gesammelten Erfahrung und Erkenntnisse für die Zukunft zu nutzen und zu verwerten.
Genau die gleichen Gedanken hat man sich zum 150. Geburtstag Travemündes im Jahre 1952 gemacht, also 7 Jahre nach dem Kriege, als der Wiederaufbau unserer Städte, auch der Hansestadt Lübeck, noch in der Anfangsphase steckte. Als Erinnerung an diese Jubiläumsfeier wollen wir noch einmal die Festrede zur 150-Jahr-Feier 1952 von A. von Brand, die in der kulturellen Lübecker Zeitschrift Der Wagner von 1953 erschienen ist, zum Abdruck bringen:
WIE DAS SEEBAD TRAVEMÜNDE ENTSTAND
Festrede zur 150-Jahr-Feier 1952
Von A. von Brandt
Der Mensch ist nicht nur Berufs-, Staats- und Arbeitstier, nicht nur zoon politikon, ein politisches Lebewesen, wie ihn Aristoteles vor etlichen tausend Jahren genannt hat. Er ist vielmehr auch um das Wort eines großen Europäers unserer Tage, des holländischen Kulturhistorikers Huizinga, anzuwenden – er ist auch homo ludens, Wesen, das „spielen“ will; und aus den Formen des freien, zwecklosen, lustvollen Spiels ist nach Huizinga Kultur erwachsen, der Spieltrieb ist eine der Wurzeln der Kultur. Wo aber könnte der Mensch, frei vom Daseinszwang, besser spielen, als im sonnigen Bad am Meer. –
So sind in der Tat unsere großen Bäder wesentliche Elemente unserer Kultur, weit über ihren ursprünglichen, meist medizinischen Zweck hinweg. Es ist Deutschlands großes Glück, daß es so reich ist an Naturbädern aller Art; und man braucht nur die Namen etwa von Baden-Baden, Ems, Karlsbad, Kissingen, aber auch vom bescheidenen Weimarischen Lauchstädt zu nennen, um sich zu erinnern, was diese Bäder immer auch für unsere Kultur- und Geistesgeschichte, ja sogar auch für die politische Geschichte bedeutet haben. Wie könnte man aus Goethes, Dostojewskis, Thomas Manns, aber auch etwa aus Bismarcks Leben und Lebenswerk die Bäder wegdenken, in denen manchmal wichtigeres entschieden und geschaffen wurde, als an Schreibtischen oder in Parlamenten. Wer wollte aus den „Buddenbrooks“ Tony Buddenbrooks und Morten Schwartzkopfs Travemünder Idyll missen!
Auch Travemünde also steht mitten in dieser kulturgeschichtlichen Entwicklungslinie des deutschen Bades, heute wichtiger als je, da es zusammen mit den übrigen ostholsteinischen Bädern auch die Aufgaben der einstweilen verlorenen östlicheren Bäder hat übernehmen müssen, von Warnemünde über Rügen, Kolberg, Zoppot bis Cranz; Bäder, die auch ihrerseits alle ihren bestimmten Platz in der deutschen Kulturgeschichte hatten und hoffentlich einmal wieder haben werden.
Nun ist es das Besondere an Travemünde, daß es zeitlich in der Spitzengruppe der deutschen Seebäder steht und damit zu einem beispielhaften Exemplar dieses kleinen aber wichtigen Zweiges der deutschen Kulturgeschichte geworden ist. Hier an der Ostsee geht ihm nur Doberan mit Heiligendamm um acht Jahre zeitlich in der offiziellen Gründung voran. Aber an Doberan war anfangs nicht das etliche Kilometer entfernte Heiligendamm das allein Wichtige, Doberan selbst hatte ja seine Stahlquelle, es war also auch Binnenbad, kein reines Seebad. Zudem war es als ausgesprochen aristokratisch-fürstliche Gründung auf einen kleinen erlesenen Besucherkreis beschränkt, Travemünde dagegen war, gleich der Mutterstadt Lübeck, die erste bürgerliche, aus privater Initiative entstandene Seebadgründung an der Ostsee. So ist es doch das erste wahre und eigentliche Ostseebad geworden. Wenn der hohe Vergleich erlaubt ist: so wie Lübeck einst, vor 800 Jahren, die Ostsee für die bürgerlich-städtische Kultur des Abendlandes erschlossen hat, so erschloß Travemünde die Ostsee für das mehr spielerische, aber auf seinem Gebiet nicht minder wichtige Kulturelement des Seebades, als Stätte reiner Freude und Erholung des Zivilisationsmenschen.
So ist es wohl recht, wenn wir im Jubiläumsjahr fragen, wie es denn vor anderthalb Jahrhunderten dazu gekommen ist. Und diese Frage führt zugleich wieder in weitere, allgemeindeutsche, ja europäische Zusammenhänge. Eine Kulturgeschichte Travemündes ist noch nicht geschrieben, obwohl das eine reizvolle und wohl auch lösbare Aufgabe wäre. Begnügen wir uns zunächst damit, festzustellen, daß hier gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein aus drei Straßen bestehendes kleines Städtchen lag, bevölkert von Fischern, Schauerleuten, Seeleuten und Lotsen, von Wall und Graben umgeben, eng zusammengeduckt um die alte Kirche und um die kleine Festung, die die Travemündung sicherte – und deren kommandierender Hauptmann, deren strumpfstrickende Stadtsoldaten und Artilleristen das einzige fremdartige und bunte Element in dem Städtchen darstellten. Der Strand lag öde und tangbespült, Leben brachten kaum fremde Gäste im Ort, sondern nur die durchschnittlich 800 bis 1000 Schiffe, die jährlich ein und wieder ausliefen, um weiter nach Lübeck zu gehen. Vor Ende des Jahrhunderts dachte kein Lübecker, geschweige denn ein Auswärtiger daran, zum Vergnügen nach Travemünde zu gehen, es sei denn etwa, daß im Zuge kriegerischer Verwicklungen im Ostseegebiet ein Geschwader dänischer, schwedischer oder kaiserlich russischer Kriegsschiffe auf der Reede ankerte und neugierig vom Strand aus besehen wurde. Aber das war doch seit dem Großen Nordischen Krieg im Anfang des Jahrhunderts nur sehr ausnahmsweise der Fall. Was man mit einem politischen Schlagwort der Zeit die „Ruhe des Nordens“ nannte, das lag – ein bißchen grau und farblos – über dem Städtchen Travemünde.
Aber auf ganz anderen Gebieten und in ganz anderen Gegenden regte sich damals neues Leben in Europa. Zwei große Beispiele erregten das geistige Leben des sterbenden Rokoko und führten schließlich zu jenen aufrüttelnden Bewegungen, die wir in der deutschen Geistesgeschichte den „Sturm und Drang“ und die frühe Romantik nennen. Von zwei Seiten her wurde der Mensch auf ein neues Verhältnis zur Natur hingewiesen, die künstlichen Fesseln, die der Barock der Natur selbst und dem Menschen in seinem Verhältnis zu ihr auferlegt hatte, wurden klirrend zersprengt. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte der französische Schweizer Jean Jacques Rousseau die Rückkehr zu Natur und natürlicher Lebensweise gepredigt. Und gleichzeitig drangen von England her, jenem England, das zur führenden politischen Macht in der weltweiten Auseinandersetzung mit Frankreich aufstieg, neue Kultur und Lebensideale auf den Kontinent ein: von England, das als einziges europäisches Land die kunstvolle Unnatur des Barock, die Vorherrschaft französischer Lebensformen nicht mitgemacht hatte, dessen Volkstum sich eine unerhörte Lebensfrische und Naturnähe bewahrt hatte. Dies quellende Leben seiner politischen, kulturellen und zivilisa-torischen Daseinsformen wirkte wie ein Sturzbad auf die junge deutsche Generation: Shakespeare wurde entdeckt und befruchtete die Literatur, englische Staatsanschauungen und Staatsformen wurden vorbildlich, die englische Frühromantik und Neugotik, Ossians wilde Naturlyrik beeindruckten Herder und den jungen Goethe, der bürgerliche Lebensstil von merry old England begann die französische Modediktatur abzulösen. Statt wie bisher nach Paris, begannen deutsche Geschäftsleute und Vergnügungsreisende, Wissenschaftler und Schriftsteller nach London zu reisen.
Beiden, dem Schweizer Rousseau und dem englischen Lebensstil war ein ganz anderes, freieres Verhältnis zur Natur gemeinsam. Und das war es, was in erster Linie in Deutschland zündend wirkte. Nicht nur Naturlyrik, auch Naturleben war es, was die jungen geistigen Führer der neuen Generation suchten und forderten: Klopstock in Altona, der ja auch das Schlittschuhlaufen als Naturwonne entdeckte, Goethe, der mit dem jungen Lübecker Johann Matthäus Tesdorpf auf den zugefrorenen Mainwiesen Klopstocks schlittschuhsportlichem Beispiel folgte, und dann vor allem die Göttinger: die jungen Männer des Hainbundes, die Brüder Stolberg, Bürger, die Schleswig-Holsteiner Boie und Cramer, die Lübecker Tesdorpf und Christian Overbeck und viele andere. Hier in Göttingen war die Zentrale der jungen deutschen Naturschwärmerei Rousseauschen und besonders englischen Stils. Kein Wunder, war doch Göttingen die Universität des mit England in Personalunion verbundenen Kurfürstentums Hannover.
Und zu diesem neuen Naturleben und Naturgefühl gehörte selbstverständlich und in erster Linie die Berührung mit dem lebendigsten Element der Natur, mit dem Wasser. Was in den alten, vornehm gewordenen Heilbädern Deutschlands längst vergessen war, das einfache, jubelnde Sich-Hineinstürzen in die lebendige bewegte Flut, das wurde wieder entdeckt. Goethe hat es uns geschildert, welche Gefühle diese brausende Jugend dabei bewegten, freilich auch, welche Abenteuer bei solchen unerhörten Neuerungen von ihm und den Brüdern Stolberg auf ihrer Schweizer Reise zu bestehen waren:
„In der Wirklichkeit nun scheint sich für solche poetische Äußerungen das Baden in unbeengten Gewässern am allerersten zu qualifizieren. Schon unterwegs wollten dergleichen Naturübungen freilich nicht zu den Sitten paßlich scheinen; man hatte sich ihrer auch einigermaßen enthalten. In der Schweiz aber, beim Anblick und Feuchtgefühl des rinnenden, laufenden, stürzenden, in der Fläche sich sammelnden, nach und nach zum See sich ausbreitenden Gewässers, war der Versuchung nicht zu widerstehen. Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich, im klaren See zu baden, mit meinen Gesellen vereinte und, wie es schien, weit genug von allen menschlichen Blicken… Dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen.“
Den Badenden ist es dann schlecht genug ergangen: die sittlich empörte Schweizer Landbevölkerung hat sie mit Steinwürfen vertrieben.
Aber die Steinwürfe nützten hier, wie meist, schließlich doch nichts. Das neue Naturgefühl war stärker als die alten Sitten. Wie hätte man nun nicht endlich auch auf den Gedanken verfallen sollen, daß das schönste „unbeengte Gewässer“, um mit Goethe zu reden, das Meer war, die Urmutter allen Wassers?!
Es ist wieder ein Göttinger, der hier nun entscheidend eingreift und der wirklich den Anstoß zur Gründung der ersten deutschen Seebäder, Norderneys, Heiligendamms und Travemündes, gegeben hat: Georg Christoph Lichtenberg, ein gelehrter Physikprofessor der Universität (was uns nur noch wenig bedeutet), aber einer der schärfsten Geister voll Kritik und Witz, die Deutschland je besessen hat, ein Plauderer und Briefschreiber, glänzender und humorvoller Stilist, eine ganz seltene Blüte im Garten des deutschen Geistes. Lichtenberg hat auf mehreren längeren Reisen England gründlich kennengelernt und hat über englisches Volksleben und Theater, über London und das Land, über englische Gebräuche und Sonderbarkeiten in Briefen berichtet, die klassisch geworden sind: einer der ersten Englandschwärmer der deutschen Kulturgeschichte. Hier hat Lichtenberg nun auch die damals bereits in Blüte stehenden englischen Seebäder besucht, das berühmte Margate, Deal und Brighton. Sie haben ihn sehr beeindruckt: von ihrem Leben und Treiben, von dem offensichtlichen gesundheitlichen und seelischen Wert des Badens, von der Lust an Wasser und Strand hat er schon in seinen Briefen an zahlreiche deutsche Freunde berichtet. Seine Gedanken hierüber faßte er dann später zusammen in einem größeren Aufsatz, der 1792 in dem von ihm herausgegebenen „Göttingischen Taschenbuch“ erschien; er hieß „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?“
Dieser Aufsatz hat Epoche gemacht; schon die Zeitgenossen der nächsten zehn, zwanzig Jahre bezeugen uns, daß er den eigentlichen Anstoß zur Gründung deutscher Seebäder – auch Travemündes – gegeben hat, nachdem England schon mehr als ein halbes Jahrhundert vorangegangen war und auch in Frankreich, sogar in Italien, bereits solche Bäder entstanden waren.
Es ist außerordentlich bezeichnend, daß es kein Mediziner, sondern ein Laie war, der diesen Anstoß gab – war doch noch ein Hinweis, den der vortreffliche Lübecker Arzt Joh. Julius Walbaum bereits 1783 auf die medizinische Wirkkraft der Seebäder gegeben hatte, ungehört verhallt. Es war ein Laie, ein Freund der großen freien Natur, der freien Bewegung von Geist und Körper, wie sie die Zeit jubelnd entdeckt hatte, der hier sprach. Das heißt, daß die Schaffung der Seebäder sogleich von viel größeren, allgemeineren Gesichtspunkten ausging, als nur von der medizinischen Wirkung. Davon spricht Lichtenberg denn auch nur ziemlich am Rande; ihm kommt es mehr auf das große Gefühlserlebnis an, auf den Anblick des ewigen Meeres selbst, die Reinheit und Unberührtheit von Sand, See und Luft, die einsame Größe der Natur und das Gefühl inneren Befreitseins, das sie vermittelt. Er spricht von dem „unbeschreiblichen Reiz, den ein Aufenthalt am Gestade des Meeres in den Sommermonaten, wenigstens für den Binnenländer, hat“. Man muß bedenken, daß das bis dahin vollkommen unbekannte Dinge waren. Insofern erfolgt also hier und vornehmfich durch Lichtenberg der Durchbruch zu einem neuen Gebiet des Naturgefühls. die Entdeckung der Natur des Meeres. Erst wenige Jahrzehnte zuvor hatte die schweizerische und deutsche Dichterjugend die dem Meer ja so nahe verwandten Schönheiten des Hochgebirges für die Menschen des 18. Jahrhunderts erschlossen.
Neben dem reinen Naturerlebnis war aber Lichtenberg auch das gesellige Dasein des erholungsuchenden Menschen wichtig; frei von den Fesseln gesellschaftlicher Konventionen erhoffte er es sich hier besonders glücklich und freudespendend. Und schließlich geht er natürlich auch auf das ein, was doch die Hauptsache scheinen möchte: auf das Baden. Da ist er, ein Mann der älteren Generation, freilich nicht so überschwänglich und naturverbunden, wie Goethe und die Stolbergs: die Art, wie er umständlich die englischen Badekarren beschreibt und dem Neuling Anweisung gibt, auf welche Weise man gefahrlos hinterm Schirm des Karrens einmal untertauchen kann, um sich dann schleunigst wieder anzuziehen das mutet uns heute höchst komisch an; genau wie die entsprechenden Anweisungen in der umfänglichen Travemünder Badeliteratur des ersten halben Jahrhunderts.
Darüber muß man sich eben klar sein, daß das Baden keineswegs die Hauptsache war – weder für Lichtenberg noch für das Publikum, das nun bald Travemünde bevölkern sollte. Noch die Travemünder Badehandbücher der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts empfehlen, nicht täglich, nicht gleich nach der Ankunft im Badeort zu baden; im übrigen sollen die Bäder höchstens fünf Minuten dauern und selbstverständlich nur einmal am Tag erfolgen. Es sollte noch bis zur Mitte des Jahrhunderts dauern, bis sich in dieser übervorsichtigen Einstellung zum Wasser ein Wandel vollzog.
Was die Pioniere des Seebades kurz vor und um 1800 forderten und propagierten war eben mehr und weniger als nur das Seebaden. Es war die Ganzheit des Naturgenusses, der menschlich-geselligen Erholung, die man suchte, die Befreiung vom Zwang des Zivilisationsdaseins, das man damals schon als ebenso drückend empfand, wie wir heute, die Unberührtheit und Frische der Seenatur. Daß das Baden auch in Travemünde anfangs nicht gerade im Vordergrund stand, zeigt u.a. die Tatsache, daß noch 1828 also nach einem Vierteljahrhundert, gleichzeitige Badegelegenheit nur für 34 Gäste vorgesehen war: 10 im Warmbadehaus, 18 in Badekarren und 6 von Badehäuschen aus – Freibaden vom Strand aus gab es ja nicht. Gegenüber diesen 34 aber konnten gleichzeitig 300 Personen im großen Speisesaal essen, ebensoviel konnten wohl auch in den damals 106 Zimmern der Seebadeanstalt wohnen. Man rechnete also nicht mit allzugroßem Andrang beim Baden!
Einrichtungen einfacher Art zum Baden also genügten allein nicht, um schon ein Seebad im Sinne und nach dem Wunsch der Zeit zu schaffen. Deshalb datieren wir das Bestehen des Seebades Travemünde auch nicht schon aus den Jahren 1799 und 1800, als der tüchtige Travemünder Jacob Lehmann, später Besitzer des Gasthauses Stadt Hamburg, ein oder zwei Badekarren an den Strand gestellt hatte. Wir datieren vom Jahre 1802 ab, weil damals durch das Wirken eines Vereins von zehn angesehenen Lübecker Bürgern die ersten jener umfangreichen Einrichtungen geschaffen worden sind, die aus dem Küstenort sogleich, noch in diesem Jahr, den richtiggehenden Kur- und Seebadeort machten, eine Stätte allseitiger menschlicher Erholung im weitesten Sinne. Diese zehn Männer – die Ärzte Danzmann, Brehmer und Schetelig, die beiden Juristen und hohen Staatsbeamten Christian Heinrich und Paul Christian Lembke, die Kaufleute Winkler, Green, Brandt und Stolterfoht und der Gärtner Karl Grösser, – sie alle waren welterfahrene Männer, die auch in Lübeck in sozialen und gemeinnützigen Unternehmungen eine Rolle spielten und die wußten, daß man in ein solches weitschauendes Vorhaben viel Kraft und etliches Geld hineinstecken mußte, wenn es etwas Ganzes werden sollte. Seltsam und bezeichnend, daß nun kein Travemünder dabei war; das macht es recht deutlich, welche große Wandlung sich in diesem Ort von damals bis heute vollzogen hat: von eigenem wirtschaftlichem oder sozialem Leben, eigener Initiative und Unternehmungslust konnte hier damals kaum die Rede sein. Das ist später anders geworden, in erster Linie dank dem Seebad. Wenn die Travemünder sich späterhin gelegentlich von Lübeck schlecht behandelt und zurückgesetzt fühlten – das ist immer wieder einmal vorgekommen und zuweilen sogar durchaus nicht ohne Grund, – so muß doch daran erinnert werden, daß es eben ausschließlich Lübecker Initiative war, die die große Entwicklung dieser 150 Jahre eingeleitet und ermöglicht hat.
Travemünde war, wie gesagt, vorher ein Ort gewesen, der seit dem Jahre 1329, als Lübeck ihn erwarb, ein halbes Jahrtausend lang eine gleichbleibend bescheidene Rolle im Leben der großen Hansestadt spielte: er diente der nautischen und militärischen Sicherung der Hafeneinfahrt, war nebenbei Fischersiedlung und hatte eine gewisse gewerbliche Bedeutung außerdem nur dadurch, daß wegen der mangelhaften Tiefe des Travestroms hier ein Teil der Ladung größerer Schiffe auf Leichter umgeschlagen werden mußte, um so weiter nach Lübeck zu gelangen. Eigenen Anteil an der großen Handels- und Wirtschaftsstellung Lübecks hatte das Städtchen nicht; ja man hat in Lübeck – im Gegensatz zu Stettin mit Swinemünde und zu Bremen mit Bremerhaven – es noch im 19. Jahrhundert ängstlich vermieden und hartnäckig verweigert, den Travemündern die Gerechtsame für eigene Handels- und Gewerbetätigkeit zu bewilligen; sogar der Eisenbahnbau nach Travemünde ist jahrelang verschleppt worden, weil man in Lübeck in gewissen Kreisen lächerlicherweise eine Handelskonkurrenz der nun lebhafter gewordenen Travemünder Bevölkerung fürchtete. Gewiß, das klingt etwas lachhaft und jedenfalls beschämend; rückblickend wird man aber doch sagen können, daß diese Entwicklung ihr Gutes hatte. Denn ihr hat es Travemünde zu verdanken, daß es sich ganz auf die große Aufgabe des internationalen Freudespenders und Seebades konzentrieren konnte, daß wenigstens dem Städtchen selbst z.B. die Durchsetzung mit Unschönheiten gewerblicher Bauten erspart blieb, wie sie leider das Volksbad Priwall in seiner ursprünglichen Naturschönheit stark beeinträchtigt haben. War man einmal entschlossen, aus Travemünde das große Seebad zu machen, so war es sicher richtig, Gewerbebetriebe hier im großen ganzen herauszuhalten, die den einmalig schönen Zusammenklang der baulichen Harmonie, der naturhaften Weiträumigkeit und des freien Strandes zerrissen hätten – jene ästhetische Gesamtschönheit, die Travemünde immer wieder so besonders auszeichnet, wenn man es mit anderen Badeorten vergleicht, deren bauliche Gestaltung im 19. Jahrhundert z. T. so gründlich verpatzt worden ist.
Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat die durch die glückliche örtliche Lage von vornherein gegebene Trennung des alten Städtchens vom eigentlichen Badeort durch das Leuchtenfeld. Der alte Ort, der bereits im Anfang des 16. Jahrhunderts etwa 800 bis 900 Einwohner zählte, hat sich bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts in Ausdehnung, Bauweise und Einwohnerzahl wenig verändert. Er änderte sich innerlich nur dadurch, daß eine Anzahl Häuser der Vorderreihe zu Hotels wurden, und daß zahlreiche Einwohner durch das Seebad neue Erwerbs- und Verdienstmöglichkeiten fanden. Aber die bauliche und organisatorische Formung des Seebades selbst vollzog sich abgesetzt vom Ort und daher in glücklicher organischer und landschaftlicher Gestalt. Sie geschah in drei Etappen. Die erste kennt nur die Bauten der sog. „Seebadeanstalt“ selbst, also jenes durch den Zehnmännerverein von 1802 gegründeten Unternehmens, das dann von 1820 bis Ende der neunziger Jahre im Besitz einzelner Unternehmer war. Es umfaßte die Bauten des alten Kurhauses, des zugehörigen Wirtschaftsgebäudes, des dicht am Strand gelegenen Warmbadehauses, ferner Musiktempel, Seetempel usw., später noch das Arkadenhaus mit der Konditorei. Ein Teil dieser Bauten war recht bescheiden, nur aus Fachwerk und nicht eben für ewige Dauer berechnet. Aber wichtig war es, dass die hervorragenderen Bauwerke, vor allem Kurhaus und Warmbadehaus, von dem bedeutendsten Architekten des damaligen Lübeck geschaffen wurden, von dem Dänen Joseph Christian Lillie, der ja auch das Aussehen unserer Stadt durch seine schönen klassizistischen Bürgerhäuser stark beeinflußt hat. Die zurückhaltend saubere, klassisch klare Form der Lillieschen Bauten hat die spätere Bauweise in Travemünde noch lange wohltuend beeinflußt; ein schönes Beispiel dafür, wie das Wirken eines großen Architekten als Vorbild einem Ort das Gepräge geben kann. Auch Travemünde sind natürlich die Scheußlichkeiten der Gründerjahre in einzelnen Exemplaren namentlich von Privathäusern nicht erspart geblieben; aber im ganzen hat die einfach edle Linie Lillies doch gesiegt und ist auch an dem Bau, der das alte Kurhaus ersetzte, noch zu spüren, wenn er auch bei seiner Neugestaltung im Jahre 1912/13 ein bißchen pompöser ausgefallen ist, als Lillie sich wohl gewünscht hätte.
Travemündes erste Entwicklung stand aber nicht nur baulich unter einem glücklichen Stern. Sie wurde auch sehr begünstigt durch wirtschaftliche und verkehrsmäßige Gegebenheiten gerade jener Jahre, wie sie sich so günstig für Lübeck seitdem nicht noch einmal wiederholt haben. Auch sie wiederum stellen das frühe Seebad Travemünde mitten hinein in viel weiterreichende, ja europäische Zusammenhänge. Die 15 Jahre zwischen 1790 und 1805 sind, durch außenpolitische Gründe bedingt, ein Zeitalter hektischer wirtschaftlicher Blüte – einer Scheinblüte, muß man freilich wohl sagen – für Lübeck gewesen. Die Seekriege zwischen England und Frankreich, die bald auch die Niederlande und Belgien, schließlich die deutschen Nordseehäfen in Mitleidenschaft zogen, sperrten die altgewohnten Handelswege, und auf Lübeck, als den zeitweise einzigen freien Großhafen des Kontinents, konzentrierte sich einige Jahre lang ein großer Teil nicht nur des europäischen, sondern auch des überseeischen Handels. In diesen Jahren barsten die alten Lübecker Speicher vor Gütern und die führenden Handelshäuser, die Haartmann, Rodde, Ganslandt, Souchay, Croll, Rettich usw. erwarben in kurzer Frist unglaubliche Vermögen, die dann allerdings bald der Franzosenzeit wieder zum Opfer fallen sollten. Dieser neugewonnene, nicht immer sehr solide Reichtum drängte nach äußerer Darstellung und Entfaltung. Auch in diesem Zusammenhang ist es also kein Zufall, daß damals das Seebad Travemünde entstand, das nach den Begriffen der Zeit anspruchsvollen Charakter trug.
Dazu trug noch ein zweiter Umstand bei, der Travemündes Entwicklung sogar dauerhafter beeinflußt hat, als der Lübecker Neureichtum der Jahrhundertwende. Das war der russische Reiseverkehr. Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts war das Zarenreich immer stärker in den Gesichtskreis der europäischen Wirtschaft und Politik getreten. Das neugegründete St. Petersburg war der wichtigste Schiffahrtspartner Lübecks geworden, schon Peter der Große hatte sich nach seiner Europareise in Travemünde zur Rückfahrt eingeschifft. Inzwischen hatte der märchenhaft reiche russische Hochadel sich daran gewöhnt, den Kontinent zu besuchen – ganz abgesehen von den zahlreichen Diplomaten und sonstigen Dienst- und Geschäftsreisenden. Travemünde war Aus- und Einschiffungsort, da man die langweilige, oft Tage beanspruchende Segel- oder Treidelfährt auf der Trave scheute. Und auch in Travemünde selbst lagen die Schiffe oft noch tagelang, um auf günstigen Wind zur Ausfahrt aus der Lübecker Bucht zu warten. So war das Städtchen schon früh vorübergehender Aufenthaltsort für eine immer wiederkehrende wohlhabende Besucherschicht geworden, die nun auch am neuentstandenen Seebad Anteil nahm. Das wurde noch wichtiger, als seit 1828 die erste und lange Zeit einzige Dampfschiffsverbindung zwischen Kontinent und Rußland von Travemünde ausging. Bis in die fünfziger und sechziger Jahre gehörten die reichen, kosmopolitischen Dampferpassagiere aus Rußland zu den wichtigsten Gästen des Seebades Travemünde.
Es konnte nicht fehlen, daß diese verwöhnte Besucherschicht, die das ganze Jahr hindurch von einem europäischen Bad zum anderen reiste, an Travemünde bedeutende Anforderungen stellte. Badehaus, Kurhaus und Logierhaus wurden verschönert und immer luxuriöser eingerichtet, ein Theater tat sich vorübergehend auf, die Kurmusik spielte eine wichtige Rolle, Roulette und Pharao, die beiden beliebten Glücksspiele der Zeit, zogen internationale Spieler heran. Freilich, der Spielbetrieb ist nicht erst von den reichen Russen in den zwanziger Jahren hier eingeführt worden, wie man bisher annahm. Es waren vielmehr ihre politischen Antipoden, die Franzosen, die das Spiel schon während ihrer Besatzungszeit hier aufgebracht zu haben scheinen; und der es tat, war aller Wahrscheinlichkeit nach kein geringerer, als Napoleons glücklichster Marschall, Jean Baptiste Bernadotte, Fürst von Pontecorvo, später unter dem Namen Karl XVI. Johan Kronprinz und schließlich König von Schweden, der hier 1808 mit seinem glänzendem Gefolge als Kurgast weilte. Das heutige Casino kann also auch schon auf eine jetzt 144jährige, freilich Jahrzehnte hindurch unterbrochene Tradition zurückblicken.
So also, entstanden aus weit ins Europäische hineinreichenden geistigen, politischen und verkehrsmäßigen Konstellationen, ist das große internationale Seebad Travemünde entstanden und so lebte es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Freilich ist es durchaus nicht so, als ob diese glänzende internationale Atmosphäre allein kennzeichnend für Travemünde gewesen wäre. Schon nach kurzer Zeit war Travemünde vielmehr auch das bevorzugte Bad für weite Kreise des binnenländischen Bürgertums geworden; das beweisen die Fremdenlisten, in denen neben den immer dominierenden Hamburgern kaum ein Ort Binnendeutschlands fehlt. Aber mehr als das: genau wie heute war Travemünde auch schon vor 100 Jahren der Anziehungspunkt für Tausende von Erholung- und Freudesuchenden aus Lübeck, aus der holsteinischen und mecklenburgischen Umgebung, die wenigstens sonntags dem Ort ein ganz volksfestmäßiges Gepräge gaben. So beschreibt uns das ein Zeitgenosse aus dem Jahre 1844:
„Der Sonntag bietet besonders eine Menge vorüberwandelnder Bilder; er ist freilich nicht fashionabel, aber er ist unterhaltend und fröhlich. Travemünde ist im weiten Umkreise das Rendezvous aller Vergnügungslustigen geworden und lauert wie eine listige Spinne im Mittelpunkt des Netzes. Da kommen die guten blondgelockten, blauäugigen Landpastorentöchter Holsteins mit ihren weißen Kleidchen und mit den mächtigen Federhüten und wollen doch auch mal im Bade sein. Da kommen die bunten drallen, vierkantigen Wirtschafterinnen aus Mecklenburg hergeschwärmt und haben zartfarbige Glacéhandschuhe über die dicken arbeitgewohnten Hände gepreßt und tragen große seid’ne Schleifen. Der Handwerksbursche führt seine Dulcinea aus Lübeck herbei, der galante Contorist oder Ladendiener klirrt mit den neusilbernen Sporen und schwapt fiedel und forsch mit der Peitsche – überall ist Wonne, Lust und Vergnügen. Von Lübeck nach Travemünde zieht eine bunte Menschenschlange hinunter, aus Carossen, Fußgängern und Reitern gebildet. Ehemänner, die eine Woche lang am staubigen Aktentisch oder im dunklen Kontor saßen, statten ihren Gattinnen Besuch im Bade ab; sie trinken Tee vor den Türen, sie essen frische Krabben und delikate Dorsche mit Buttersauce und erkundigen sich nebenbei nach dem Gesundheitszustand der Herrin, deren Hysterie hier gottlob allmählich verschwindet. Am Sonntagabend ebben diese Fluten wieder und am Montag ist es in der Travemünder Badewelt stiller, aber auch fashionabler.“
Indessen ist das Gesellschafts- und Vergnügungsleben doch nicht allein das Maßgebliche gewesen. Mehr als im Leben der binnenländischen Luxusbäder hat doch in den großen Seebädern immer mehr auch ihr eigentlicher Zweck, das Bad in Sonne und Meer, überwogen – je weiter die Zeit fortschritt, um so deutlicher. Die Furcht noch des endenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vor Wasser- und Sonnen Einwirkung s chwand langsam dahin, der menschliche Körper begann in dieser Hinsicht viel mehr zu fordern und zu vertragen, als man ihm noch zu Lichtenbergs Zeit zugetraut hätte. Die Männer gewöhnte das beginnende Sportleben an intensivere Freiluftkultur. Und besonders wichtig war es, daß nun auch der unentbehrlichste Anziehungspunkt großer Bäder, die Frauen, immer mehr auch aktiven Anteil am Badeleben nahmen. Sie waren um 1850 nicht mehr bloß in den Gesellschaftsräumen und am Musikpavillon zu finden, sie promenierten nicht mehr nur im Schatten von Park und Sonnenschirm, sie begannen nun auch unbefangen am Strand und im Wasser zu erscheinen. Viel trug dazu bei, daß man die heilende Wirkung von Sonne und Seebad auf die Modekrankheiten der Zeit, Bleichsucht und Blutarmut, zu erkennen begann.
In Travemünde war man freilich ziemlich prüde, und es dauerte sehr lange, bis offiziell das Baden von Karre und Badehäuschen ersetzt wurde zunächst durch die 1872 erbaute erste Badeanstalt – selbstverständlich getrennt für Damen und Herren -, der erst 1903 ein Familienbad, endlich 1927 die Erlaubnis zum Freibaden vom Strand aus folgte. Aber das Volk, auf dem Priwall, badete und lebte dort lange ganz inoffiziell schon viel natürlicher. Und darüber hinaus dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß auch die reichen aristokratischen Kreise, die nach Travemünde ins Bad kamen, im stillen schon ähnliches unternahmen, wie sie es aus den großen atlantischen Seebädern – Ostende, Trouville, Biarritz – gewöhnt waren – d.h. daß sie sich aus Travemünde herausbegaben, um irgendwo am Strand so zu baden, wie sie wollten. Wir besitzen leider keine Schilderung des Travemünder Badebetriebes jener Zeit, vom Badegast aus gesehen. Aber wir können uns eine gewisse Vorstellung von den tatsächlich neuartigen Gewohnheiten des internationalen Seebadpublikums der fünfziger und sechziger Jahre bilden, nämlich aus den unvergleichlichen brieflichen Schilderungen, die uns einer der größten Seebadfanatiker jener Zeit hinterlassen hat: das war der damalige preußische Gesandte, zunächst in Petersburg, dann in Paris, Otto von Bismarck. 1853 berichtet er aus Ostende, daß man dort direkt unterhalb der Strandpromenade vom Strand aus bade, Damen und Herren durcheinander(!), „erstere in sehr unkleidsamen langen Röcken aus dunkler Wolle, letztere in Tricots mit halblangen Armen und Beinen“. Hier, wie im spanischen San Sebastian und im französischen Trouville zog Bismarck es aber vor, sich außerhalb des Ortes einen einsamen Platz zu suchen, wo er unbekleidet baden und sonnen konnte – er mochte das nasse Badezeug nicht leiden. In Ostende gab es dafür sogar einen besonders nur für Männer reservierten Strandteil, der das Paradies hieß.
In Biarritz konnte man auch schon vom Strand aus baden, freilich tat selbst Bismarck es da nur mit Badeanzug, denn mit ihm zusammen badete hier unentwegt die schöne junge Fürstin Katharina Orloff, für die er in jenen Sommerwochen 1862 geschwärmt hat – sein letztes Idyll, bevor ihn im Herbst des gleichen Jahres die große Politik ganz verschlang. Er schreibt von sich selbst, er bade täglich meist zweimal, bleibe gewöhnlich eine halbe Stunde im Wasser, „ich bin ganz Seesalz und Sonne“. Dies freiere Baden in See und Sonne, dies ungebundene gesellige Leben ohne steife Konvention, das Bismarck damals in Biarritz suchte und fand, dürfen wir uns wohl ähnlich um 1850/60 auch in Travemünde vorstellen. Damit erst – und deswegen zitieren wir die Bismarckschen Schilderungen hier – damit erst, mit dieser veränderten, endlich ganz frei natürlich gewordenen Einstellung sind die großen Seebäder das geworden, was sie heute sind: der Strand, die Sonne und das salzige Wasser sind ihre wichtigsten Elemente geworden, die der erholungsuchende Mensch von morgens bis abends nicht missen möchte.
Es ist darum, wie wir schon erwähnten, auch kein Zufall, daß nun, seit der Mitte des Jahrhunderts, die Bademöglichkeiten in Travemünde immer mehr erweitert und schließlich auch verbilligt wurden – bis dahin kostete ein Seebad 12 Schilling, was der Kaufkraft von etwa 3,- DM entsprechen dürfte! – und daß schon 1847 auch eine „wohlfeile“ Badeanstalt auf dem Priwall eröffnet wurde. Damit beginnt dort die Geschichte des Volksbades, die sozialgeschichtlich beinahe noch interessanter ist, als die von Travemünde selbst. Denn sie zeigt, wie das Baden in See und Sand, zunächst nur ein Nebenvergnügen der aristokratischen Gesellschaft von Weltbädern, nun auch in Deutschland eine wirkliche Volksbewegung wird, daß nun auch das Volk jene Kultur, man kann schon sagen jenen Kultus des Leibes in Bad und Sonne entdeckt, der uns heute so selbstverständlich ist. Man vergißt darüber zu leicht, daß diese Bewegung erst knapp 100 Jahre alt ist. So lange hat es also gedauert, bis aus jenen lustjauchzenden Badeabenteuern der Brüder Stolberg und Goethes in der Schweiz ein allgemeines Kulturanliegen der Menschheit wurde!
Unsere Schilderung darf bei diesem Stand der Entwicklung, den auch Travemünde etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erreicht hat, abbrechen. Denn alles, was seitdem kam, ist ja nur noch Ausbau, Vertiefung und Erweiterung des einmal Gewonnenen. Die Grundlagen dessen, was wir heute an Travemünde und allen unseren Seebädern lieben, hat das erste halbe Jahrhundert der Entwicklung gelegt.
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