Die Sturmflut vom 13. November 1872

Unsere deutschen Küsten und Dänemark sind im Jahre 1872 infolge eines Orkans von einer furchtbaren Überschwemmung heimgesucht worden. Ortschaften sind verwüstet, Landschaften überschwemmt und kunstreiche Schutzbauten zerstört worden. Werke, die Jahrhunderten zu trotzen bestimmt waren, sind vernichtet, und manches Menschenleben ist den tobenden Elementen zum Opfer gefallen.

Auch an unserer Vaterstadt (Lübeck) ist jener Tag nicht spurlos vorübergegangen.

Es war in der Nacht vom 12. auf den 13. November gegen 11 Uhr, als die Trave einen so hohen Wasserstand erreicht hatte, wie noch nie zuvor. Während der Fluß sonst ruhig und langsam dahinfließt, stieg derselbe in jener Nacht in solchem Maße, daß er das Bollwerk überflutete und die zur Trave hinabführenden Straßen ganz oder teilweise überschwemmte. In einzelnen Häusern stieg das Wasser bis zur Höhe von 1 m und darüber. Von der kleinen Altenfähre an bis zum kleinen Bauhof stand das Wasser in allen Straßen längs der Trave, mit Ausnahme der Holstenstraße. Nachmittags 2 Uhr war die größte Gefahr vorüber; bald nach 4 Uhr trat ein rasches Fallen des Wassers ein. Aber welch ein Bild der Verwüstung bot sich den Blicken! Wohin man nur den Fuß setzte, ob in die Straßen und Gänge oder längs des Traveufers und des Stadtgrabens, überall hatte man denselben traurigen Anblick. Vom Eingang des Hafens bis zur Holstenbrücke war das Flußbett der Trave mit schwimmenden Fässern, Ballen und Waren aller Art übersät. Manches wurde zwar geborgen, manches aber ging gänzlich verloren oder wurde doch zerstört. Groß waren die Verluste, von denen die Kaufleute und andere Geschäftsleute betroffen wurden, aber nicht minder groß war der Schade, den zahlreiche, ohnehin nicht mit Glücksgütern gesegnete Familien erlitten, die um ihre einzige Habe gekommen waren.

Israelsdorf, Gothmund und Schlutup sind ebenfalls nicht verschont geblieben, und ein nicht weniger trauriges Bild schlimmer Zerstörung bot das weit und breit bekannte Ostseebad Travemünde. Außerordentlich hatte die Badeanstalt gelitten; der Schade an Gebäuden und Gartenanlagen betrug etwa 60 000 Mark. Das Badehaus war nur noch eine Ruine. Noch schlimmer aber als dieser Verlust war der Mangel an Trinkwasser. Die salzige Flut hatte alle Brunnen erfüllt und deren Wasser untauglich gemacht. Gutes Trinkwasser mußte von den umliegenden Dörfern und selbst von Lübeck herbeigeschafft werden.

Im Fürstentum Lübeck sind die Badeörter Haffkrug, Scharbeutz und besonders Niendorf arg verheert. In Haffkrug belief sich der Verlust außer der Verwüstung an Wegen und Gärten auf 40-50 000 Mark. Scharbeutz hatte den Verlust von 5 Menschenleben zu beklagen.

Alle Berichte aus Schleswig-Holstein und von der gesamten mecklenburgischen und pommerschen Küste stimmten darin überein, daß seit Menschengedenken ähnliche Ereignisse nicht erlebt worden seien.

Kallsen

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Ostsee im Sturm

Nun kommt der Sturm geflogen,
der heulende Nordost,
daß hoch Riesenwogen
die See ans Ufer tost.

Das ist ein rasend Gischen,
ein Donnern und ein Schwall,
Gewölk und Abgrund mischen
all ihrer Stimmen Schall.

Und in der Winde Sausen
und in der Möwe Schrei’n,
in Schaum und Wellenbrausen
jauchz ich berauscht hinein.

Schon mein ich, daß der Reigen
des Meergotts mich umhallt,
die Wogen seh ich steigen
grüner Roßgestalt.

Und drüber hoch im Wagen
vom Nixenschwarm umringt
ihn selbst, den Allen, ragen,
wie er den Dreizack schwingt.

E M A N U E L   G E I B E L

(Aus den „Ostseeliedern“ – ohne Überschrift)

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