Travemünde – die Siechenbucht von oben

Aus der Geschichte der Travemünder Fischersiedlung
zusammengestellt von Wolf-Rüdiger Ohlhoff

Viele der jüngeren Flüchtlingsgeneration haben heute leider kein Wissen mehr über die Anfangsjahre ihrer Großeltern und Eltern nach Vertreibung und Flucht aus den Ostgebieten. Gemessen an der Bevölkerungszahl nahm Schleswig-Holstein zwischen 1944 und 1947 die meisten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus dem Osten des Deutschen Reiches auf. Die Einwohnerzahl in Schleswig-Holstein, die 1939 noch 1,6 Millionen betragen hatte, stieg bis 1949 auf 2,7 Millionen.

Trotz aller Widerstände und den damit zu bewältigenden Problemen, gelang die Unterbringung, Versorgung und Integration. Pommern hatte in den 1930er und Anfang der 1940er Jahre mit mehr als der Hälfte Anteil an den jährlichen Erträgen der Ostseefischerei. Der Verlust der Fischereihäfen jenseits der Odermündung bedeutete eine herbe Einbuße.

Die Fischerfamilien haben, soweit sie sich vor den Russen retten konnten, zuerst Zuflucht in den vorpommerschen und mecklenburgischen Häfen gesucht. Viele blieben damals im Bereich der sogenannten sowjetischen Zonen hängen und glaubten bis ins Jahr 1946 hinein, sie bräuchten einfach ihre Lebaer, Stolpmünder, Rügenwalder und Kolberger Erkennungszeichen an den Bordwänden ihrer Kutter nicht übermalen zu müssen, könnten jeden Tag Anker lichten und Kurs in ihre Heimathäfen nehmen. Die aber im Westen in Schleswig-Holstein anlandeten, mussten eine ganze Weile hin und her kreuzen, mit Zwischenaufenthalten in Warnemünde, Sassnitz auf Rügen und Fehmarn, ehe sie in ihren neuen Heimathäfen anlegen konnten.

Usedom, Wollin, Stolpmünde, Hela, Namen, die uns heute weiter entfernt erscheinen als Palma de Mallorca oder Las Palmas auf Gran Canaria. Doch aus Pommern und auf der westpreußischen Gegend kamen Sie, die Fischer, mit all ihren Familien, die durch die Kriegswirren nach Travemünde verschlagen wurden. Insgesamt kamen 78 Fischerfamilien mit 68 Fischkuttern. Auf den oft mit vielen anderen Flüchtlingen überladenen Kuttern drängten sich die Menschen, um sich vor der anrückenden russischen Armee über die Ostsee in Sicherheit zu bringen. Dem Lübecker Senat, mit der Unterbringung der Flüchtlinge und mit deren und der Verpflegung der eigenen Bevölkerung überfordert, kamen die Fischer gerade recht. Denn Fisch war vorhanden, da in den Kriegszeiten den Fischen in der Ostsee kaum nachgestellt wurde, da fast alle Kutter zum Kriegsdienst eingezogen und zu Kriegskuttern umgebaut worden waren.

Wie in Travemünde noch heute von den alt gewordenen übrig gebliebenen Augenzeugen aus der damaligen Zeit berichtet wird, müssen die ersten Familien abenteuerlich untergebracht worden sein. Zum großen Teil wohnten die auf ihren an der Vorderreihe liegenden Kuttern. Wer Glück hatte, wurde von den Travemündern in jedem nur verfügbaren Raum wie Garagen und Gartenhäuschen untergebracht. Die Frauen mit ihren Kindern, die nicht so viel Glück hatten, gingen tagsüber bis zum Abend im Ort spazieren, bis ihre Männer abends mit ihrem Kutter vom Fischfang aus der Lübecker Bucht zurückkamen. Nachdem der Fang in der Vorderreihe angelandet war, konnte dann der Fischkutter über Nacht wieder zu einem Wohnboot umfunktioniert werden. Da es auf den Kuttern keine Toiletten gab, kamen einige Flüchtlinge mit den in der Vorderreihe wohnenden Travemündern überein, dass für die Benutzung ihrer hauseigenen Toiletten mit einem Eimer voll frischem Fisch bezahlt wurde.

Wie man sieht, war den pommerschen Fischern der Neuanfang in Travemünde nicht leicht gefallen. Aber ihre Unverdrossenheit und Beharrlichkeit verhalf ihnen letztendlich doch zu beachtlichen Fangergebnissen. Die Fischerei in Travemünde hat durch sie doch einen beachtlichen Aufschwung genommen. Die sogenannten “Ostdeutschen“ stellte damals 68 Kutter von insgesamt 123 Kuttern der Travemünder Fischereigenossenschaft. Der Geschäftsführer der Genossenschaft – ein waschechter Holsteiner – traf mit einem kurzen prägnanten Satz sehr offen den Kern der Sache: „Die Ostfischer haben der Travemünder Fischerei wieder zum Leben verholfen!“

Travemünde – Fischersiedlung-Modell – Stadtschule

Um nun die dringend benötigten Unterkünfte zu schaffen, wurden vom Liegenschaftsamt der Hansestadt Lübeck 66 kleine Holzfertighäuser auf dem Gelände des heutigen Skandinavienkais im Schnellverfahren von der Zimmerei Hermann Wandke (später „Hanse-Fertighaus-Bau Hermann Wandke) errichtet, sozusagen die Vorläufer der heutigen Tiny-Houses, die bei der heutigen Wohnungsknappheit in sind. Betonfundament, vier Pfosten, einfache Spundbretter drum herum, Dach mit Teerpappe darauf und fertig „war die Laube“. An die Isolierung der Häuschen, Wasseranschluss und Kanalisation war am Anfang nicht zudenken. Wichtig war erst einmal „ein Dach über dem Kopf“. Die Verpflegung – Fisch vom eigenen Kutter und Gemüse wie Kartoffeln, Wurzeln, Rüben etc. wurde im hauseigenen Garten vor der Haustür angebaut. Daneben wurden natürlich auch Hühner, Kaninchen und Gänse gehalten, die eine willkommene Bereicherung des Speisezettels waren. Die Betonpiste der ehemaligen Landebahn für Kriegsflugzeuge zwischen den Häusern war der einige befestigte Weg der Siedlung. Kieferngehölz, ein feiner weißer Sandstrand und das damals glasklare Wasser der Siechenbucht direkt vor der Haustür, das war für die Kinder ein paradiesischer Zustand.

Schadstoffemissionen und verdreckte Bachund Flussläufe in die Bucht, diese Schlagworte der Moderne kannte man damals noch nicht. Wie der alte Fischer Sabin erzählte, war die Fischersiedlung in der damaligen Nachkriegszeit für seine Bewohner ein idyllisches Fleckchen Erde. Weit ab vom Strom der Badegäste, von Casinobetrieb und Kurtaxen lag das kleine eigenständige Dörfchen der sogenannten „Ostfischer“. Die flachen Wohnbaracken verschwanden hinter dem hohen Erlen- und Weidengebüsch zwischen der Hauptstraße nach Lübeck und der Trave. Ganz still war es dort unten: der Sumpf schluckte den Lärm der nach und von Travemünde fahrenden Autokolonnen vor allem in der Hochsaison. Nur der Arbeitslärm von der nahen Werft am Hafen schallte wochentags herüber, und dann und wann unterbrach das dumpfe Tuten eines Dampfers die paradiesische Ruhe.

Travemünde – Reisende am Ostpreußenkai

Besonders in der Sommerzeit muss es geradezu traumhaft – zumindest für die Kinder – gewesen sein. Man ging aus dem Haus den Sandweg entlang und konnte sich schon nach wenigen Metern zum Baden in die Fluten der Trave stürzen. Im Winter aber, wenn die paar vorhandenen Wasserentnahmestellen bei den damals besonders kalten Wintereinbrüchen einzufrieren drohten, wurde es auch in den nicht isolierten ungedämmten Holzhäuschen bitterkalt, sodass sich Eiskristalle an den Innenwänden bildeten, so wie es sich zur Zeit in den vom Krieg heimgesuchten Gebieten der Ukraine darstellt. Einmal, so berichtete Fischer Fritz Sabin, ist ihm ein im Schlafzimmer seiner Hütte untergebrachte Sack mit Kartoffeln total erfroren. Zu nur noch walnussgroßen Gebilden waren die Erdäpfel zusammengeschrumpft; ein für die damalige Notzeit unersetzlicher Verlust.

Auch der damalige Weg zum Anbau mit dem „Herz in der Tür“, dem „Plumpsklo“, war nicht ohne Probleme, war doch die Sitzbank mit dem Loch darin von Raureif überzogen und musste erst einmal für das „große Geschäft“ enteist werden. Kleinere „Geschäfte“ wurden dann notgedrungen im Freien hinter der Hecke im nicht einsehbaren „toten“ Winkel verrichtet. Wenn dann auch die Fischer mit ihren Kuttern nicht hinausfahren konnten, wegen des Eingangs auf der Trave und Ostsee, mussten Löcher ins Eis geschlagen werden, um mit Aalstechen die Familie über Wasser zu halten. In den 1950er Jahren muss Travemünde zusammen mit den Fischkuttern der Flüchtlinge, die zum Teil an den Stegen vor ihren Hütten lagen und den großen KFK-Kuttern der Travemünder Fischer im Fischereihafen eine der größten, hier jemals registrierten Fischfangflotten an der Lübecker Bucht besessen haben.

Schon bald entwickelte sich in der Fischersiedlung an der Siechenbucht eine rege Betriebsamkeit. Auf den Wegen zwischen und vor den Holzhütten wurden die Fischernetze ausgebreitet, getrocknet und geflickt, und am Rande der Siedlung entstanden behelfsmäßige Räucheröfen und sogar kleine Nerzzuchten zur Wasserseite hin. Die Fischer erkannten, dass die Aufzucht der hauptsächlich mit Fischabfällen gefütterten Pelztiere bei ihnen günstige Voraussetzungen fand. Jedem Fangreise ließ, auch bei bester Qualität, noch genügend „Gammel“ übrig, um für die Nerze reichlich Futter zu sichern. So entstanden trotz Schwierigkeiten bei der Kapitalbeschaffung kleine Nerzfarmen, oft nur mit einem einzigen Muttertier beginnend. Aus angeschwemmtem Treibholz und Maschendraht bauten die handwerklich begabten Fischer die Nerzgehege selbst. Die flinken, otterähnlichen Muttertiere warfen einmal im Jahr 3-4 Junge, deren Felle dann für 60-80 RM verkauft werden konnten. Die Fischer hatten so die Möglichkeit, bereits vor der Währungsreform von den Kauferlösen ihre Wohnbaracken von der Hansestadt käuflich zu erwerben, wobei allerdings die Grundstücke bei der Hansestadt verblieben, wofür ein jährlicher Pachtbetrag in geringer Höhe an die Hansestadt entrichtet werden musste.

1950 hieß es dann schon in Berichten und Aufzeichnungen über die Fischersiedlung: „Im Laufe der Zeit haben esdie geflohenen Fischerfamilien geschafft, ihrer Siedlung das Aussehen einer gepflegten Miniaturstadt zu geben. Die dem Sandboden mühsam abgerungenen Kleingärten umgeben die sauberen Häuschen, die mit 3 kleinen Räumen, Küche und Schuppen den vielköpfigen Familien nur beschränkten Wohnkomfort bieten konnten. Die gemütlichen Stuben täuschen tatsächlich aber leicht über die Härte des Darinlebens hinweg. Von weither musste das benötigte Wasser in Eimern herbeigeholt werden; im Winter leisteten die dünnen ungedämmten Wände der Kälte gegenüber nur ungenügend Schutz, und im Frühjahr wird das undrainierte Land regelmäßig so überschwemmt, dass einzelne Baracken nur mit Gummistiefeln zu erreichen waren“.

Mit den abnehmenden Fischbeständen in der Ostsee dezimierte sich aber die Flotte von selbst. Es wurden sogar Abwrackprämien vom Land gezahlt und viele Fischer mussten sehen, dass sie sich umschulten, um in anderen Berufen ihr Brot zu verdienen. So sollen sich sogar 2-3 von ihnen im hiesigen Casino als Croupier haben ausbilden lassen. So nahm auch die Lübecker Hafengesellschaft gerne diese erfahrenen Seeleute
in ihren Reihen auf.

Travemünde – Verschiffung PKW am Ostpreußenkai

Dem stark zunehmenden Reiseverkehr per Fährschiff von und nach Skandinavien in den sogenannten “Wirtschaftswunderjahren“ der frühen 1950er mit den damals berühmten Fährschiffen “Drottning Viktoria“ und “Konung Gustav V“ vom Abfertigungspavillon in der Vorderreihe aus, wurde dieses Provisorium schnell nicht mehr gerecht. Mit offener Schiffsseitenklappe dauerte der Abfertigungsvorgang einfach zu lange. Mitzunehmende PKW mussten sogar mit dem Bordkran an Bord gehievt werden, ein spektakulärer Vorgang für die vielen Touristen im Ort mit ihren Kameras, wobei auch manchmal Beulen in den PKWs zu beklagen waren. So war nach intensiven Überlegungen und Planstudien eindeutig klar, dass ein neuer Kai nur auf dem Gelände der Fischersiedlung an der Siechenbucht Platz finden konnte.

Nach dieser im Auge der Stadt Lübeck doch mehr oder weniger provisorischen Barackensiedlung begann die Hansestadt dann mit der Planung und Realisierung der neuen Heimat für die Fischerfamilien aus dem Osten, der sogenannten “neuen Fischersiedlung“, in der Teutendorfer Siedlung mit staatlicher und kommunaler pekunärer Hilfe. Allein 17 Fischerfamilien stammten dabei von der Halbinsel Hela. Die neue Bleibe wurde in mehreren Bauabschnitten ab Mitte 1954 von verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften errichtet und zwar: An der Bäk und dem Depenhörn am Teutendorfer Weg am Stadtrand von Travemünde. Von den insgesamt 115 neuen Siedlerstellen für insgesamt 449 aus den Ostgebieten geflohenen Personen auf jeweils 300-400 qm Eigenland wurden nur 2 Grundstücke an einheimische Fischerfamilien vergeben.

Travemünde – der neue Skandinavienkai

Die Umsiedlung nahm Konturen an und als dann am 27. März 1963 der Neubau der TT-Linie, die “Nils Holgersson“, am ersten Fähranleger (heute Anleger 3) erstmals ihre Heckklappe zum Be- und Entladen öffnete, da mussten nach den ersten erfolgten Umsiedlungen auch die letzten Familien aus der „alten Fischersiedlung“ weichen. Nachdem die letzten Fischer umgezogen waren, begann 1961 der Abriss der Fischersiedlung, die auf dem Gelände bestehenden Nerzfarmen wurden aufgelöst, und der Seglerverein Herrenwyk zog notgedrungen auf den Priwall um.

Den umgesiedelten Fischerfamilien wurden nach Zahlung einer Abfindung für ihre Häuser in der „alten Fischersiedlung“ die diesmal aus Stein gebauten neuen Einfamilienhäuser in der Teutendorfer Siedlung zum Kauf angeboten. Von den 115 Fischerfamilien waren Ende der 1950er Jahre noch 98 in ihrem alten Beruf tätig, (davon 49 Kuttereigner, 3 Miteigner, 2 Charterer, 44 Mitfischer und 2 Kleinfischer). Während die einheimischen Fischer vor allem in der Lübecker Bucht küstennahe Fischerei betrieben, fuhren die Flüchtlingsfischer meist auf die offene Ostsee, in der sogenannten kleinen Hochseefischerei, wobei sie auch zum Teil ihre alten Fischgründe in der südöstlichen und südlichen Ostsee aufsuchten. Die größeren Kutter von ihnen fuhren sogar zum Beginn der Fangsaison Anfang Juli von der östlichen Ostsee über die Nordsee bis in die Gewässer der Doggerbank und vor das norwegische Trondheim zu den großen Laichplätzen des Fettherings.

In den ersten Jahren nach ihrer Flucht durften sie sogar küstennahe Gewässer vor dem russisch besetzten Ostdeutschland aufsuchen, ausgestattet mit von den Russen ausgestellten Interzonen-Pässen.

Alle meine vorhergehenden Ausführungen mögen verdeutlichen, welche wirtschaftliche Kraft von den Bewohnern der alten und der neuen Fischersiedlung zumindest in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem verlorenen Krieg ausging und welche gesellschaftliche Stellung damit innerhalb Travemündes verbunden war.

Die Familien Kroll aus Leba, Lemke und Schinno aus Stolpmünde, Mittag aus Rügenwalde, Boness aus Kolberg und die vielen anderen, hier nicht genannten von der pommerschen Küste, die der Krieg nach Travemünde verschlug, sie alle haben, so war es im Kontor der Holsteinischen Fischereigenossenschaft freimütig zu hören, „gezeigt, wie und wo man in der Ostsee fischen kann!“

Durch sie alle hatte die „neue Siedlung“ auch nicht den zu jener Zeit üblichen faden Beigeschmack einer „Flüchtlingssiedlung“. Hinzu kam auch noch, dass weitere aus dem Osten stammende Fischerfamilien nicht nur in ihrem Travemünder „FischerGhetto“ in der Teutendorfer Siedlung lebten, sondern über den ganzen Ort verstreut, ihr neues Zuhause gefunden hatten.

Quellen: Lübecker Nachrichten, Archiv der Hansestadt Lübeck, Pommerscher Greif e.V., Archiv des Pommernzentrums Travemünde, Ulrich Tolksdorf „Die neuen Fischersiedlungen nach 1945 in S.-H.“, Pommersches Heimatbuch 1957, Lübecker Verein für Familienforschung e. V., Facebook-Gruppe „Du lebst schon lange in Travemünde, wenn …“, Interviews mit alten Fischern aus Pommern sowie Fotos aus den Archiven der o. a. Institutionen und dem Fotoarchiv Wolf-Rüdiger Ohlhoff

 

zurück zur Übersicht Travemünde Geschichte