DGzRS 1. Motorrettungsboot „Oberinspector Pfeifer“

RETTUNG ÜBER SEE 1945

Die Lage an der Ostfront im Januar 1945
Zur gleichen Zeit, da im Westen, die mit so großen Hoffnungen begonnene Ardennenoffensive zusammenbricht, beginnen die Russen mit ihren wuchtigen Operationen in Stoßrichtung Westen. Verstärkt durch viele hunderttausend Tonnen über See von Amerika nach Russland geschafften amerikanischen Kriegsmaterials treten die Sowjets zur Großoffensive an, am 12. Januar an der 1. weißrussischen Front unter Marschall Schukow über Lodz und Kalisch mit dem Ziel mittlere Oderstellung und mit dem Endziel Berlin, am 13. Januar an der 3. weißrussischen Front zwischen Ebenrode und Schloßberg in Richtung Königsberg.

Im Norden werden durch das schnelle Vordringen der an Zahl und Material weit überlegenen Sowjets im Weichseltal das im Osten und Süden hart umkämpfte Ostpreußen und ein kleiner Teil Westpreußens vom Reich abgeschnitten.

Schlacht bei Kursk 1943

Die Russen stoßen am 25. Januar, knapp 14 Tage nach dem Beginn der Offensive, an Elbing vorbei und erreichen bei Tolkemir das Frische Haff. In diesem so entstandenen Kessel, der im Norden und Nordwesten von der Ostsee begrenzt wird, befindet sich aber zur Stunde noch die Masse der Zivilbevölkerung, der es nicht mehr gelang, in den Westen zu trecken.

Dadurch, dass der zum Reichsverteidigungskommissar ernannte Gauleiter von Ostpreußen (der nach dem Kriege von den Polen zum Tode verurteilte, aber nicht hingerichtete) Erich Koch der Zivilbevölkerung die Räumung in den von Kampfhandlungen bedrohten Gebieten zu spät oder gar nicht erlaubte, kam es bei der Januaroffensive der Russen zu einer überstürzten Räumung. Sie artete erst in eine regellose und dann in eine panische Flucht aus, als die ersten größeren Verbrechen der Russen an der Zivilbevölkerung weiteren Kreisen bekannt wurden.

So kam es, dass aus Ostpreußen und dem angrenzenden Westpreußen von 2 650 000 Bewohnern nur 250 000 die Flucht bis in den Westen gelang, als die Russen Tolkemit am Frischen Haff erreichten. Am 3. März erreichen die Sowjets die Odermündung bei Stettin, am 7. März stoßen sie beiderseits von Kolberg an die Ostsee vor.

Den östlich von Elbing/Tolkemit eingeschlossenen zwei Millionen Ostpreußen bleiben nur diese Wege in die Freiheit: Über das vereiste Haff nach Pillau und von dort über See nach dem Westen, über die Nehrung mit dem Treckwagen oder zu Fuß nach Danzig, Gotenhafen, Hela oder weiter nach Pommern, oder von Kahlberg, Schiewenhorst oder der Oxhöfter Kämpe mit Kleinstfahrzeugen der Marine und Kuttern der Fischerei bis nach Gotenhafen und Hela, um dort von den Seeschiffen nach dem Westen mitgenommen zu werden.

Den in Ostpommern abgeschnittenen Pommern und Flüchtlingen aus Ostpreußen, Westpreußen und dem Gebiet Weichsel-Warthe bleibt nur noch der Weg nach Norden und Nordosten, nach Kolberg, solange Kolberg noch nicht eingeschlossen ist oder nach Rügenwalde,
Stolpmünde und weiter nach Danzig und Gotenhafen, Hela.

In diesen Hafenstädten gibt es nur noch die Hoffnung, auf dem Seewege der entfesselten sowjetischen Soldateska und der drohenden Verschleppung nach Sibirien zu entgehen. Als der russische Großangriff dann auch auf diesen Raum einsetzt, halten sich hier trotz der inzwischen erfolgten Transporte über See noch immer 2,5 Millionen Zivilisten auf.

Flüchtlingstreck in Ostpreußen

Die unsichtbare Flagge aller Seefahrzeuge war das Rote Kreuz
Sind diese Hoffnungen berechtigt, verfügt die Marine überhaupt noch über annähernd genügend Schiffsraum?

In Erwartung einer Katastrophe für die deutsche Zivilbevölkerung in den nördlichen deutschen Ostgebieten hatte das Oberkommando der Marine schon rechtzeitig Seetransportraum zur Verfügung halten lassen. Es hatte später weitere Handelsschiffe, und zwar gegen die Einwände Hitlers, der den Nachschub zur Festung Norwegen gefährdet sah, für diese Rettungsaktion beschafft.

Auf Umwegen und später durch eigenmächtige Beschlagnahme und ohne Hitler zu fragen, wurden auch soviel Kohle und Heizöl wie nur irgend möglich für diese Aktion sichergestellt.

Oberstes Gebot der Marine ist es jetzt, aus dem Osten so viele Menschen wie möglich zu retten.

Die ersten Flüchtlingstransporte laufen aus
Nachdem bereits aus Reval, Riga, Libau und Windau und später aus Memel Zivilisten und Verwundete und dann auch Truppen über See herausgeschafft wurden, beginnt mit dem Tage der Abschnürung Ostpreußens, also mit dem 25. Januar, von Pillau ausgehend die erste große Transportaktion mit Handelsschiffen anzulaufen. Wenig später gehen auch in Danzig-Neufahrwasser und Gotenhafen die ersten Passagierdampfer und Frachtschiffe mit Flüchtlingen nach Swinemünde, Saßnitz, Kiel, Kopenhagen in See. Diesen Aktionen folgen nach der Abschnürung Ostpommerns Flüchtlingstransporte aus Kolberg, Rügenwalde und Stolpmünde und schließlich auch aus Swinemünde und Saßnitz.

Sie setzten ihr Leben ein für Menschlichkeit Nicht nur Schiffe der Handelsmarine, auch Einheiten der Kriegsmarine, vom Kreuzer bis zum U-Boot und Kriegsfischkutter schaffen Frauen und Kinder, Greise und Verwundete aus den Häfen der vom westlichen Reichsgebiet von den Russen abgeschnittenen Gebieten heraus. Die Zeit drängt, denn trotz des erbitterten Widerstandes der deutschen Soldaten schrumpfen die beiden großen Kessel von Tag zu Tag mehr zusammen.

Die Männer der Kriegsmarine und der Handelsmarine vollziehen die Evakuierung über See nicht nur unter großen Entbehrungen und Opfern, sie tun dies unter höchstem Einsatz, unter dem Einsatz ihres Lebens, denn die Ostsee ist kein friedliches Meer mehr. Nach dem Ausscheiden Finnlands aus dem Kriege sind den Russen auch die Minensperren im Finnenbusen in die Hand gefallen. Die russischen U-Boote operieren am deutschen Tiefwasserweg und am Küstenweg der mittleren und westlichen Ostsee. Hier fahren immer wieder auf von Minen geräumten Wegen Fluchtschiffe in ununterbrochenem Einsatz zwischen den Häfen der westlichen Ostsee und denen der Brückenköpfe hin und her, manche zehnmal, manche noch öfter.

Dabei beherrscht auch die alliierte Luftwaffe die Gebiete über der Ostsee. Die Schiffe sind nicht durch Bomben aus der Luft, unter Wasser, nicht nur von den Torpedos russischer U-Boote, sondern auch durch die ständig aus der Luft geworfenen Minen mit kompliziertesten Zündvorrichtungen gefährdet. Es ist zudem Winter. Das Wasser der Ostsee ist eisig kalt. An ein Überleben im Wasser ist nach einer für ein Schiff tödlichen Torpedierung oder einem Sinken nach Bomben oder Minentreffer kaum zu denken. Dennoch leisten die zivilen Seeleute der Handelsmarine und die uniformierten Männer der Kriegsmarine Unmögliches, um Flüchtlinge und verwundete Kameraden zu retten.

Allein aus Pillau werden bis zum April 451 000 Frauen, Kinder und Greise abtransportiert, aus Danzig, Gotenhafen und Hela sind es, zum Teil nach Umladen der aus Ostpreußen über die Küstenfahrt nach hier geschafften Menschen, eine Million und 50.000 (1.050000). Aus Kolberg werden rund 90.000 Zivilisten herausgeschafft, aus Swinemünde etwa 70.000.

Die größte Völkerflucht der Geschichte
Nach den Unterlagen des Marineoberkommandos wurden insgesamt 2.022.602 Menschen abtransportiert, davon waren rund 1 300.000 Flüchtlinge, die anderen Verwundete. Die Zahl der über See transportierten Flüchtlinge war aber erheblich größer. Sie lag zusammen mit denjenigen Transporten, die auf den von der Kriegsmarine nicht erfassten kleinen und Kleinstfahrzeugen erfolgten, und den Zahlen derer, die an Bord der großen Schiffe zusätzlich und ohne Zählung durch die Marine an Bord kamen, bei 1,9 Millionen. Zu dieser Zahl sind mindestens 700.000 Verwundete hinzuzuzählen.

Die Gesamtzahl, der über See transportieren Flüchtlinge und Verwundeten erhöht sich also, wenn man die von der Kriegsmarine nicht erfassten Personen hinzuzählt – eine Zahl, die sich aus der Statistik der in den Westen Angekommenen, der Verluste auf See und auf dem Lande und der in der Heimat Verbliebenen annähernd errechnen lässt – auf 2,6 bis 2,7 Millionen.

Hinzukommen noch die Soldaten der verschiedenen Wehrmachtteile, die bei der Aufgabe von Gebieten und Ostseestützpunkten ebenfalls herausgefahren wurden. Unter diesen sind viele in Ostdeutschland geborene und beheimatete Soldaten, die so vor einem ungewissen Schicksal bewahrt wurden.

An dieser Transportaktion, welche amerikanische und englische Marineexperten als die größte Transportaktion über See bezeichnet haben, die jemals in der Geschichte und dazu noch unter akuter Feindeinwirkung durchgeführt worden ist, nahmen außer allen verfügbaren Schiffen der Kriegsmarine 165 Schiffe der Handelsmarine mit je über 500 Brutto-Register-Tonnen teil.

Von den 165 Schiffen kamen 78 aus Hamburg und damit der weitaus größte Teil aus dieser Hansestadt, 40 aus Bremen, 14 aus Lübeck, vor dessen Toren die Fluchtschiffe mit ihren von Angst und Panik aus ihrer Heimat vor den Russen geflohenen deutschen Menschen an Bord, 8 aus Königsberg und die weiteren aus Flensburg, Kiel, Rostock, Emden, Wismar, Elbing, Stolpmünde und sogar aus Duisburg.

Dank des Einsatzes der Sicherungsstreitkräfte der Kriegsmarine blieben die Verluste gering, gemessen an der Zahl der Reisen der Fluchtschiffe sogar sehr gering. Von den 165 ehemaligen Passagierdampfern und Frachtschiffen gingen nur 16 Schiffe verloren, die Zahl der Opfer an Menschen liegt, da ja viele Schiffe mehrmals fuhren (die „Goya“ sank zum Beispiel bei ihrer dreizehnten Reise) prozentual sehr viel niedriger. Sie wird mit 18 058 beziffert, das sind bei fast drei Millionen beförderten Flüchtlingen und Verwundeten 0,6 Prozent.

Katastrophen
Die größten Verluste hatte die „Goya“, ein norwegisches Beuteschiff. Sie sank am 14. April vor Rixhöft durch Feindeinwirkung. Nach Zählung der Kriegsmarine war sie mit 6 385 Flüchtlingen belegt, in Wirklichkeit und mit Sicherheit waren aber noch mehr Flüchtlinge an Bord. Gerettet wurden nur 165.

Die nächstgrößere Katastrophe ereignete sich am 31. Januar 1945.

An diesem Tage versank, von drei russischen U-Boot-Torpedos getroffen, der ehemalige Kraft-durch-Freude-Dampfer der Machthaber des Dritten Reiches, die 25 484 BRT große „Wilhelm Gustloff“. Von den von der Marine gezählten an Bord befindlichen 5 653 Flüchtlingen konnten nur 904 gerettet werden. Die wirkliche Zahl der Belegung der „Wilhelm Gustloff“ wird aber etwas höher, bei 6 000 bis 6 500 Personen, liegen. Tragisch war bei dieser Katastrophe, dass der in Sichtweite befindliche Schwere Kreuzer „Admiral Hipper“ nicht retten konnte und auch nicht retten durfte. Er hatte selbst 1 500 Flüchtlinge an Bord und hatte U-Boot- und Torpedopeilungen.

Geringe Verluste
Die anderen Schiffe, die während der Transportfahrten verlorengingen, waren wesentlich kleiner, auch die Zahl der Opfer gottlob geringer, ausgenommen die der „Steuben“. Die „Steuben“ war gleichzeitig Lazarettschiff. Von 3 000 Flüchtlingen und Verwundeten kamen 2 700 um.

Dass die Zahl der Opfer, gemessen an der Gesamtzahl der über See transportierten Flüchtlinge und Verwundeten trotz der gegnerischen Anstrengungen, diese Schiffe zu vernichten, so verhältnismäßig gering bleiben konnte, das danken alle, die über See gerettet wurden, den Männern der Kriegsmarine und deren oberster Führung, die sich mutig auch gegen Befehle Hitlers gestellt hatten. Sie danken es auch den Kapitänen, Offizieren und Seeleuten der Handelsschiffe, Männern, die in großer Selbstverständlichkeit ihre Wohnräume und Kammern und Kojen Frauen und Kindern und Verwundeten zur Verfügung stellten, und die dafür an Deck und im Freien auf den Rosten hinterm Schornstein schliefen, wenn sie keine Wache hatten und die auch viele Opfer bei den Schiffsverlusten gebracht haben.

Trotz dieser gewaltigen Anstrengungen der Marine blieben viele Menschen in ihrer alten Heimat zurück. Nicht wenige, die zum zweiten mal auf die Flucht gegangen waren, resignierten und suchten keinen Weg in die Freiheit. Allein Ostpreußen und Westpreußen hatte von seiner 2 653 000 Personen umfassenden Bevölkerung einen Verlust von über 614 000 Menschen. Das bedeutet, dass allein diese Provinz zwischen den Jahren 1939 und 1950 jeden Vierten seiner Bevölkerung verlor.

Tragisches Finale
In diesem Zusammenhang muss aber auch derer gedacht werden, die hier bei Lübeck, draußen in der Neustädter Bucht, umgekommen sind. Es sind aus dem KZ in Schlesien, dem KZ Stutthof bei Danzig und dem KZ Neuengamme kommende Häftlinge, nämlich Russen, Franzosen, Polen und Juden. 5 500 waren hier an der Neustädter Bucht auf dem ehemaligen Luxusdampfer „Cap Arcona“ eingeschifft worden, 3 000 auf dem Frachter „Thielbeck“ und eine nicht bekannte Zahl war bereits auf dem Passagierdampfer „Deutschland“. Die KZ-Häftlinge sollten, so heißt es, auf Betreiben der Kriegsmarine nach Schweden transportiert und den schwedischen Behörden übergeben werden.

Alle drei Schiffe wurden von alliierten Flugzeugen gebombt. Auf der „Cap Arcona“ überlebten nur 50 Häftlinge, die Zahl der Opfer auf der „Deutschland“ und „Thielbeck“ ist annähernd hoch. Wenn es stimmt, dass diese armen Menschen, begleitet von SS-Wachmannschaften, nach Schweden geschafft und nicht in der Ostsee versenkt werden sollten, dann gibt es kaum eine größere Tragik, dann kamen sie um in der Stunde, da sie sich schon gerettet glaubten.

Käthe Kollwitz (1867 – 1945) – Plakat „Nie wieder Krieg“ 1924

 

DGB – Banner zum Antikriegstag 2019

 

An die UT-Redaktion eingereicht von Hartmut Haase/DER PASSAT CHOR
Zusammenstellung des Arbeitskreises „Rettung über See“.

 

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